Lu Märten, eine bedeutende Figur des frühen 20. Jahrhunderts, bietet in ihren kürzlich veröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen einen faszinierenden Einblick in ihr Leben und die gesellschaftlichen Gegebenheiten um 1900. Die Herausgeberin Chryssoula Kambas hat diese Aufzeichnungen sorgfältig editiert und präsentiert sie in einer umfassenden Edition, die nicht nur Märtens persönliche Erlebnisse dokumentiert, sondern auch das historische und kulturelle Umfeld dieser Zeit beleuchtet.
Lu Märten wurde 1879 geboren und lebte bis 1970. Während ihres Lebens war sie in verschiedenen Rollen aktiv: als Publizistin, Lyrikerin, Erzählerin, Dramatikerin, Kunsthistorikerin und Sozialistin. Ihre Arbeiten reichten von literarischen Werken wie „Meine Liedsprache“ und „Torso. Das Buch eines Kindes“ bis hin zu filmischen Exposés und kunstkritischen Artikeln. Märtens Engagement für soziale Gerechtigkeit und Frauenrechte führte sie in zahlreiche politische und kulturelle Bewegungen, darunter die Frauenbewegung und die Bodenreformbewegung. Sie war mit vielen namhaften Persönlichkeiten ihrer Zeit, wie Käthe Kollwitz und Johannes R. Becher, befreundet und hatte Kontakte zu verschiedenen Verlagen.
Die autobiographischen Aufzeichnungen, die in den 1950er Jahren entstanden und 1967 abgeschlossen wurden, sind vor allem als ein Familiengedächtnis gedacht. Sie beinhalten die für Märten schicksalsrelevanten Begegnungen und reflektieren ihre Kindheit und Jugend in Berlin bis etwa 1908. In diesen Jahren erlebte sie zahlreiche Umzüge innerhalb der Stadt und die damit verbundenen Herausforderungen. Ihre Schilderungen vermitteln ein lebendiges Bild ihrer Familie, ihrer sozialpolitischen Aktivitäten und der kulturellen Strömungen, die sie prägten. Es wird deutlich, dass Märtens Kindheit von Verlust und Krankheit geprägt war; ihre Eltern und Geschwister starben früh, was sie tief beeinflusste und ihre Sicht auf das Leben prägte.
Die Aufzeichnungen sind in mehrere Abschnitte unterteilt, die thematisch unterschiedliche Aspekte ihres Lebens behandeln. Besonders bemerkenswert ist die Reflexion über ihre Familie und die Verluste, die sie erlitten hat. Märten beschreibt, wie der Tod ihres Bruders Hermann im Jahr 1906 ihr Leben nachhaltig beeinflusste. Trotz der vielen Herausforderungen fand sie Trost in der Literatur und entwickelte frühzeitig ein Interesse an sozialen und politischen Fragen. Sie bildete sich autodidaktisch weiter und las unter anderem Werke von Spinoza.
Die Herausgeberin hebt hervor, dass Märtens Aufzeichnungen nicht nur für die Nachwelt von Bedeutung sind, sondern auch einen tiefen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit bieten. Themen wie Geschlechterrollen, Bildungswesen, und die Emanzipationsbewegung werden angesprochen und kontextualisiert, sodass die Lesenden ein umfassendes Bild der damaligen Verhältnisse erhalten. Märtens „Nachträge“ umfassen zudem interessante Erzählungen über Künstler und Persönlichkeiten, die sie während ihrer Reisen kennengelernt hat, sowie Gedanken zu gesellschaftlichen Themen ihrer Zeit.
Die Edition enthält auch informative Einleitungen, Fußnoten und Kommentare, die das Verständnis der Texte erleichtern und die Relevanz von Märtens Werk für die Literatur- und Kulturgeschichte verdeutlichen. Die Herausgeberin hat es geschafft, einen wertvollen Beitrag zur Erinnerungskultur zu leisten, der sowohl Wissenschaftler als auch interessierte Laien anspricht.
Insgesamt zeigt sich, dass Lu Märtens autobiographische Aufzeichnungen nicht nur eine persönliche Geschichte erzählen, sondern auch ein bedeutendes Zeugnis ihrer Zeit darstellen. Sie bieten einen Einblick in die Herausforderungen und Errungenschaften einer außergewöhnlichen Frau, die sich in einer von Veränderungen geprägten Welt behauptete. Die Edition „… von Anfang an auf Seiten des Sozialismus“ ist damit ein unverzichtbares Werk für alle, die sich für die deutsche Geschichte und die Rolle von Frauen in der Gesellschaft interessieren.
Die Veröffentlichung ist ein Gewinn für die literaturhistorische Forschung und ermöglicht es, das Leben und Wirken einer bemerkenswerten Persönlichkeit besser zu verstehen. Lu Märten bleibt durch ihre Werke und ihr Engagement ein leuchtendes Beispiel für den Einfluss, den eine einzelne Frau auf die gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen ihrer Zeit ausüben kann.