In seinem neuen Roman „Nullstunde“ gelingt Michael Reichert eine eindrucksvolle literarische Collage, die die Erfahrungen und Eindrücke einer Kindheit in Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg einfängt. Die Geschichte spielt im Jahr 1957, in einer Stadt, die noch stark von den Narben des Krieges und dem nationalsozialistischen Terror gezeichnet ist. Trotz des Wiederaufbaus und des beginnenden Wirtschaftswunders sind die Auswirkungen des vergangenen Unheils überall sichtbar: Zerstörte Stadtlandschaften, traumatisierte Menschen und eine Gesellschaft, die mit den Schatten ihrer Vergangenheit zu kämpfen hat. Doch gleichzeitig spüren die Menschen den Hauch eines Wandels, der eine neue Zeit des Nachdenkens und der Hoffnung auf eine ungewisse Zukunft einleitet.
Das grausige Hobby von Sir Joseph Londe
„Was für einen Unfug wollen Sie von mir?“, fragte Daniel – vergeblich versuchte er, sich aufzusetzen.
„Nur um einen Blick auf Ihr Gehirn zu werfen“, war die angenehme Antwort.
„Mein – mein was?“ Daniel keuchte.
„Ihr Gehirn“, wiederholte der andere, nahm eines der Messer aus der Schachtel und untersuchte es kritisch. „Übrigens, Sie wissen natürlich, wer ich bin? Ich bin Sir Joseph Londe, der größte Chirurg der Welt. Ich habe mehr Operationen durchgeführt, als es Sterne am Himmel gibt. Leider wurde eines Tages ein kleiner Teil meines Gehirns rot. … Solange ich diesen kleinen Teil des roten Gehirns nicht ersetzen kann, bin ich verrückt. …. In Sie habe ich jedoch absolutes Vertrauen.“
„Wie wollen Sie an mein Gehirn rankommen?“ Daniel fand die Kraft zu fragen.
„Ich will es natürlich herausschneiden“, erklärte der andere. „Sie brauchen nicht die geringste Angst zu haben. Ich bin der beste Operator der Welt.“
„Und was machen Sie danach mit mir?“
Der Chirurg kicherte.
„Ich begrabe Sie im Steingarten“, antwortete er. „Ich nenne ihn meinen Friedhof. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, ganz still zu bleiben …“
Das ist ein kurzer Textausschnitt aus dem Buch, das Spannung und einen besonderen Lesegenuss verspricht.
Der Protagonist Tomas kehrt als junger Mann in seine Heimatstadt zurück, jedoch ist diese Rückkehr mehr als nur physischer Natur. Es ist auch eine Reise in seine eigene Kindheit, die er in Form einer fiktiven autobiografischen Erzählung reflektiert. Die Erlebnisse des elfjährigen Tomas werden in einer mosaikartigen Struktur präsentiert, die die Komplexität seiner Erfahrungen verdeutlicht. Seine Mutter, eine psychisch labile Frau, schwankt zwischen depressiven Phasen, in denen sie sich zurückzieht, und Momenten obsessiver Zuneigung, die für Tomas oft überwältigend sind. Diese emotionale Achterbahnfahrt prägt ihre Beziehung, wobei Tomas gleichzeitig als ihr „kostbarer Schatz“ und als Projektionsfläche ihrer unerfüllten Wünsche fungiert.
Tomas’ Vater, ein vom Krieg gezeichneter Mann, ist ebenfalls ein Problemfall. Er spricht nicht über seine traumatischen Erlebnisse und flüchtet in den Alkohol. Die Beziehung zwischen den Eltern ist von gegenseitiger Verachtung und stillen Kränkungen geprägt, was zu einem belastenden Umfeld für Tomas führt. Immer wieder wird er zum Spielball ihrer Konflikte und muss lernen, zwischen den Fronten seiner Eltern zu navigieren. Ein Satz, der Tomas’ innere Zerrissenheit beschreibt, lautet: „Mama und Papa tragen ihre Kämpfe in mir aus.“ Diese familiären Spannungen sind jedoch nur ein Teil des größeren gesellschaftlichen Rahmens, in dem der Roman spielt.
Reichert beleuchtet auch die sozialen Strukturen und die Dynamiken der Nachkriegszeit. Dabei begegnet Tomas verschiedenen Charakteren, wie dem gutmütigen Herrn Winkler, der seine Mitgliedschaft in der NSDAP lieber verschweigt, und dem autoritären Blockwart, der das Erbe des Nationalsozialismus verkörpert. Diese Figuren spiegeln die gesellschaftlichen Spannungen wider und verdeutlichen den Nebel der Vergangenheit, der über der Gegenwart schwebt. Die meisten Menschen in Tomas’ Umfeld ziehen es vor, über die dunkle Geschichte zu schweigen, was die Verdrängung und das Schweigen in der Gesellschaft thematisiert.
Ein zentrales Element des Romans ist die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Zukunft. Tomas’ Vater versucht, ihm eine positive Perspektive zu vermitteln, indem sie gemeinsam die Interbau besuchen, eine Ausstellung über die „Stadt der Zukunft“. Hier wird der Übergang von den Trümmern der Vergangenheit zu einer hoffnungsvollen Zukunft symbolisiert. Tomas und seine Freunde entwickeln auf ihrem Trümmerfeld eigene Vorstellungen von Zukunft, indem sie eine Skulptur aus gefundenen Objekten errichten, die sie „Totem“ nennen. Dieses Zeichen der kindlichen Selbstermächtigung steht für ihre Suche nach Zugehörigkeit und Sinn in einer unsicheren Welt.
Reicherts Erzählweise ist geprägt von einer leisen, aber eindringlichen Sprache, die sich nicht in moralischen Anklagen oder pathetischen Ausrufen ergeht. Stattdessen zeigt der Roman mit filigraner Genauigkeit die politischen, sozialen und emotionalen Bedingungen der frühen Bundesrepublik. Die episodische Struktur des Werkes, die teils kurze Kapitel umfasst, mag den Lesefluss anfangs stören, doch sie trägt dazu bei, die komplexen Themen miteinander zu verknüpfen und zu nuancieren.
„Nullstunde“ zeichnet ein differenziertes Bild einer Gesellschaft in einer Übergangsphase, die sich zwischen den Schatten der Vergangenheit und den Möglichkeiten der Zukunft bewegt. Reicherts gelingt es, diese zeitgenössischen Fragen sensibel zu behandeln und gleichzeitig die kindliche Perspektive des Protagonisten einzufangen. Der Roman ist eine Einladung, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Herausforderungen der Gegenwart zu reflektieren. So entfaltet „Nullstunde“ eine stille, aber eindrucksvolle Kraft, die lange nach der Lektüre