Kindheit in Berlin nach dem Krieg – Eine literarische Entdeckungsreise in Michael Reicherts „Nullst…

In seinem neuen Roman „Nullstunde“ gelingt Michael Reichert eine eindrucksvolle literarische Collage, die die Erfahrungen und Eindrücke einer Kindheit in Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg einfängt. Die Geschichte spielt im Jahr 1957, in einer Stadt, die noch stark von den Narben des Krieges und dem nationalsozialistischen Terror gezeichnet ist. Trotz des Wiederaufbaus und des beginnenden Wirtschaftswunders sind die Auswirkungen des vergangenen Unheils überall sichtbar: Zerstörte Stadtlandschaften, traumatisierte Menschen und eine Gesellschaft, die mit den Schatten ihrer Vergangenheit zu kämpfen hat. Doch gleichzeitig spüren die Menschen den Hauch eines Wandels, der eine neue Zeit des Nachdenkens und der Hoffnung auf eine ungewisse Zukunft einleitet.

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Im dunkelsten Afrika

Im Sudan, der ab 1821 unter die Herrschaft der osmanischen Vizekönige von Ägypten gekommen war, brach 1881 der Mahdiaufstand aus. Nach dem Abzug der anglo-ägyptischen Truppen aus dem Sudan behauptete sich der deutsche Forscher Emin-Pascha als Gouverneur der südlichsten Provinz des Sudan Äquatoria.
Emin-Pascha, bürgerlich Eduard Schnitzer, schrieb einen Brief an die Times, in dem er um Hilfe bat. Die Empathie in der britischen Bevölkerung führte dazu, dass rasch die finanziellen Mittel für eine Expedition zur Befreiung Emin-Paschas aufgebracht wurden.
Der Afrikaforscher Henry M. Stanley wurde beauftragt, die Expedition zu leiten. Ob und wie es Stanley gelang Emin-Pascha zu retten und welche Abenteuer er auf seiner Expedition erlebte, das beschreibt der Autor Stanley in diesem Buch.

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Der Protagonist Tomas kehrt als junger Mann in seine Heimatstadt zurück, jedoch ist diese Rückkehr mehr als nur physischer Natur. Es ist auch eine Reise in seine eigene Kindheit, die er in Form einer fiktiven autobiografischen Erzählung reflektiert. Die Erlebnisse des elfjährigen Tomas werden in einer mosaikartigen Struktur präsentiert, die die Komplexität seiner Erfahrungen verdeutlicht. Seine Mutter, eine psychisch labile Frau, schwankt zwischen depressiven Phasen, in denen sie sich zurückzieht, und Momenten obsessiver Zuneigung, die für Tomas oft überwältigend sind. Diese emotionale Achterbahnfahrt prägt ihre Beziehung, wobei Tomas gleichzeitig als ihr „kostbarer Schatz“ und als Projektionsfläche ihrer unerfüllten Wünsche fungiert.

Tomas’ Vater, ein vom Krieg gezeichneter Mann, ist ebenfalls ein Problemfall. Er spricht nicht über seine traumatischen Erlebnisse und flüchtet in den Alkohol. Die Beziehung zwischen den Eltern ist von gegenseitiger Verachtung und stillen Kränkungen geprägt, was zu einem belastenden Umfeld für Tomas führt. Immer wieder wird er zum Spielball ihrer Konflikte und muss lernen, zwischen den Fronten seiner Eltern zu navigieren. Ein Satz, der Tomas’ innere Zerrissenheit beschreibt, lautet: „Mama und Papa tragen ihre Kämpfe in mir aus.“ Diese familiären Spannungen sind jedoch nur ein Teil des größeren gesellschaftlichen Rahmens, in dem der Roman spielt.

Reichert beleuchtet auch die sozialen Strukturen und die Dynamiken der Nachkriegszeit. Dabei begegnet Tomas verschiedenen Charakteren, wie dem gutmütigen Herrn Winkler, der seine Mitgliedschaft in der NSDAP lieber verschweigt, und dem autoritären Blockwart, der das Erbe des Nationalsozialismus verkörpert. Diese Figuren spiegeln die gesellschaftlichen Spannungen wider und verdeutlichen den Nebel der Vergangenheit, der über der Gegenwart schwebt. Die meisten Menschen in Tomas’ Umfeld ziehen es vor, über die dunkle Geschichte zu schweigen, was die Verdrängung und das Schweigen in der Gesellschaft thematisiert.

Ein zentrales Element des Romans ist die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Zukunft. Tomas’ Vater versucht, ihm eine positive Perspektive zu vermitteln, indem sie gemeinsam die Interbau besuchen, eine Ausstellung über die „Stadt der Zukunft“. Hier wird der Übergang von den Trümmern der Vergangenheit zu einer hoffnungsvollen Zukunft symbolisiert. Tomas und seine Freunde entwickeln auf ihrem Trümmerfeld eigene Vorstellungen von Zukunft, indem sie eine Skulptur aus gefundenen Objekten errichten, die sie „Totem“ nennen. Dieses Zeichen der kindlichen Selbstermächtigung steht für ihre Suche nach Zugehörigkeit und Sinn in einer unsicheren Welt.

Reicherts Erzählweise ist geprägt von einer leisen, aber eindringlichen Sprache, die sich nicht in moralischen Anklagen oder pathetischen Ausrufen ergeht. Stattdessen zeigt der Roman mit filigraner Genauigkeit die politischen, sozialen und emotionalen Bedingungen der frühen Bundesrepublik. Die episodische Struktur des Werkes, die teils kurze Kapitel umfasst, mag den Lesefluss anfangs stören, doch sie trägt dazu bei, die komplexen Themen miteinander zu verknüpfen und zu nuancieren.

„Nullstunde“ zeichnet ein differenziertes Bild einer Gesellschaft in einer Übergangsphase, die sich zwischen den Schatten der Vergangenheit und den Möglichkeiten der Zukunft bewegt. Reicherts gelingt es, diese zeitgenössischen Fragen sensibel zu behandeln und gleichzeitig die kindliche Perspektive des Protagonisten einzufangen. Der Roman ist eine Einladung, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Herausforderungen der Gegenwart zu reflektieren. So entfaltet „Nullstunde“ eine stille, aber eindrucksvolle Kraft, die lange nach der Lektüre