In Lídia Jorges neuestem Werk „Erbarmen“ wird das Thema der Existenz und der menschlichen Beziehungen in einem Pflegeheim auf eindringliche Weise behandelt. Die Protagonistin, Maria Alberta Nunes Amado, liebevoll Dona Alberti genannt, ist eine betagte Frau, die nach einem schweren Unfall im sogenannten „Hotel Paraíso“ lebt – einem Pflegeheim, dessen Name ironisch anmutet. Im Rollstuhl sitzend, reflektiert sie über ihr Leben und die ständigen Bewegungen, die für sie das Wesen des Lebens ausmachen. „Bewegung ist Leben“, sagt sie, und diese Aussage bildet den roten Faden des Romans.
Der Rahmen der Geschichte wird durch Audiodateien gebildet, die Dona Alberti für ihre Tochter aufgenommen hat. In diesen Erinnerungen, die zwischen 2018 und dem Frühjahr 2020 angesiedelt sind, wird der Leser in den tristen Alltag des Pflegeheims eingeführt. Jorge, die bereits seit vielen Jahren für ihre literarischen Arbeiten bekannt ist, verbindet in diesem autobiografischen Roman persönliche Erlebnisse mit fiktiven Elementen. Der Tod ihrer eigenen Mutter, die im Frühjahr 2020 an den Folgen einer COVID-19-Infektion starb, prägt die Erzählung und verleiht ihr eine besondere emotionale Tiefe.
Dona Albertis Lebensgeschichte ist nicht nur ein Rückblick auf ihre eigene Existenz, sondern auch ein Spiegelbild der Herausforderungen, die viele Senioren in Pflegeeinrichtungen erleben. Die enge Beziehung, die sie zu einer brasilianischen Pflegerin namens Lilimunde entwickelt, steht im Mittelpunkt der Handlung. Diese Verbindung bringt einen Hauch von Menschlichkeit und Wärme in den oft kalten und distanzierten Alltag des Heims, in dem die Pflegekräfte häufig aus dem Ausland kommen und unter prekären Bedingungen arbeiten.
Das Pflegeheim selbst wird von Jorge als ein Ort des Widerspruchs dargestellt. Trotz der tristen Realität, in der viele Bewohner mit Einsamkeit und Krankheit kämpfen, gibt es auch Lichtblicke. Ein Schild mit der Aufforderung, „jegliche Anzeichen von Melancholie oder Traurigkeit an diesen Pforten zurückzulassen“, zeigt die absurde Komik der Situation. Viele Mitarbeiter sind während der Pandemie erkrankt oder geflohen, was die ohnehin schon schwierige Betreuung weiter verschärft. Die Abwesenheit von ärztlicher Hilfe verdeutlicht die Vulnerabilität der alten Menschen und die Schattenseite des Gesundheitssystems.
Trotz der schweren Themen, die Jorge behandelt, bleibt ihr Schreibstil nüchtern und oft humorvoll. Sie schafft es, alltägliche Begebenheiten, wie die Bedeutung des Speiseplans oder die schüchternen Avancen eines älteren Herrn, der Dona Alberti den Kopf verdreht, mit einem leichten, ironischen Ton zu erzählen. Diese humorvollen Einschübe bieten dem Leser eine willkommene Ablenkung von den tiefgreifenden Fragen des Lebens und des Sterbens, die im Hintergrund stets präsent sind.
Gleichzeitig thematisiert Jorge auch die inneren Kämpfe der Protagonistin. Dona Alberti leidet oft unter Schlaflosigkeit und Albträumen, die sie mit ihrer Vergangenheit konfrontieren. Die Nacht wird metaphorisch als „blutrünstiges Tier“ beschrieben, das in ihren Raum eindringt und sie nicht zur Ruhe kommen lässt. Trotz ihrer körperlichen Einschränkungen und des fortgeschrittenen Alters bewahrt sich die Hauptfigur ihren kritischen Geist und ihren Streitwillen bis zum Schluss. Sie hinterfragt die Romane ihrer Tochter und fordert von ihr, Geschichten zu erzählen, die ein Happy End haben – ein Wunsch, der die Komplexität der Beziehung zwischen den beiden Frauen widerspiegelt.
Lídia Jorge selbst bezeichnet „Erbarmen“ als ihr persönlichstes Werk. Es vereint Elemente eines Tagebuchs, einer Biografie und einer Zeitchronik und gibt Einblick in die tiefsten Gedanken und Gefühle der Protagonistin. Die Lektüre ist oft schmerzhaft, nicht weil es die Absicht der Autorin war, sondern weil sie die Realität des Alters und der Einsamkeit schonungslos darstellt. Mit diesem Roman führt Jorge eindrucksvoll vor Augen, dass sie eine der bedeutendsten Stimmen der portugiesischen Gegenwartsliteratur ist, die es versteht, das Leben in all seinen Facetten zu beleuchten.





