Anne Michaels, die kanadische Autorin und Lyrikerin, hat mit ihrem neuen Roman „Zeitpfade“ ein faszinierendes literarisches Werk geschaffen, das die Leser auf eine bemerkenswerte Reise durch Raum und Zeit mitnimmt. Seit ihrem Debüt „Fluchtstücke“ im Jahr 1996 hat Michaels sich einen Namen gemacht, indem sie komplexe Themen wie Liebe, Erinnerung und die Dualität von Körper und Seele behandelt. In „Zeitpfade“ spielt sie erneut mit diesen Motiven und präsentiert eine Familiensaga, die sich über ein ganzes Jahrhundert erstreckt und in fragmentarischer Form erzählt wird.
Der Roman beginnt nicht in einer linearen Erzählweise, sondern setzt an verschiedenen Punkten im Zeitverlauf an. Diese Struktur lässt sich mit einem Puzzle vergleichen, bei dem die Leser die Puzzlestücke selbst zusammensetzen müssen. Jedes der zwölf Kapitel hat seinen eigenen Ausgangspunkt und beleuchtet verschiedene Charaktere, deren Beziehungen und Geschichten erst nach und nach zusammengeführt werden. Diese Fragmentierung und die Verwendung von Leerzeilen zwischen den Prosa-Passagen schaffen eine besondere Leseerfahrung, die das Tempo der Erzählung verlangsamt und den Leser dazu einlädt, über die Bedeutung der einzelnen Teile nachzudenken.
Ein besonders berührendes Element von „Zeitpfade“ ist Michaels‘ poetische Sprache, die oft an die Schönheit von Gedichten erinnert. Ihre Beschreibungen sind tiefgründig und laden dazu ein, über die komplexen Themen, die sie behandelt, nachzudenken. Eine der eindrucksvollsten Passagen beschreibt das Übernatürliche als die Präsenz des Guten, das sich von der Dunkelheit der menschlichen Existenz abhebt. Diese Betrachtungen über die Liebe und die Macht der Erinnerung sind zentrale Themen, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk ziehen.
Der Roman beginnt mit der Figur John, einem englischen Soldaten, der 1917 schwer verwundet auf einem Schlachtfeld in Frankreich liegt. Während er sich an seine große Liebe erinnert, wird deutlich, dass Erinnerungen für ihn eine Flucht aus der grausamen Realität des Krieges darstellen. Sein Verlangen nach einem sanften Tod spiegelt die Sehnsucht nach Frieden und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wider. Diese Thematik entwickelt sich weiter, als John überlebt, aber von den Geistern seiner Vergangenheit gezeichnet ist.
In einem weiteren Kapitel sehen wir ihn zusammen mit seiner Frau Helena, die ein Fotostudio betreiben. Hier wird die Fotografie selbst zum Symbol für die Vergänglichkeit des Lebens. Die geisterhaften Erscheinungen, die auf ihren Fotos auftauchen, stellen die Frage nach der Grenze zwischen Leben und Tod in den Raum. Michaels nutzt diese Motive, um zu zeigen, wie Erinnerungen und die Versuchung, die Vergangenheit festzuhalten, das Leben der Charaktere beeinflussen.
Die starken Frauenfiguren in „Zeitpfade“ sind ein weiteres bemerkenswertes Merkmal des Romans. Von John’s Frau Helena bis zu ihrer Tochter Anna, die als Krankenschwester im nächsten Weltkrieg dient, wird die Stärke und Resilienz der Frauen durch die Jahrhunderte hindurch eindrucksvoll dargestellt. Selbst Marie Curie, die Physikerin, nimmt in späteren Kapiteln eine mysteriöse Rolle ein und verweist auf die Verbindung zwischen Wissenschaft und Mystik, die Michaels immer wieder thematisiert.
Michaels‘ Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften, insbesondere den Theorien von Darwin und den Entdeckungen der Röntgenstrahlen, eröffnet einen philosophischen Diskurs über die Grenzen des Wissens. Die Idee, dass eine lange Belichtung in der Fotografie das Leben in einem Raum unsichtbar machen könnte, verweist auf die Komplexität von Erinnerungen und das, was in unseren Leben verborgen bleibt.
Trotz der vielen Leerstellen und der thematischen Schwere, die der Roman transportiert, strahlt „Zeitpfade“ eine lebendige Kraft aus. Michaels schafft es, durch ihre poetische Sprache und die Verbindung von Raum und Zeit eine dreidimensionale Erzählung zu konstruieren, die den Leser dazu einlädt, immer neue Verbindungen zwischen den Fragmenten zu finden. Nach 14 Jahren Wartezeit auf diesen Roman ist es klar, dass Michaels‘ sorgfältiges und langsames Schreiben sich gelohnt hat. „Zeitpfade“ ist ein Werk, das zum Nachdenken anregt und den Leser auf eine tiefgründige Entdeckungsreise einlädt.