Tommy Wieringa, ein niederländischer Autor, der im deutschsprachigen Raum bislang wenig bekannt ist, könnte mit seinem neuen Roman „Nirwana“ bald an Bedeutung gewinnen. Dieses Werk, das auf den ersten Blick als Familiengeschichte erscheint, zieht den Leser in ein tiefes Netz aus gesellschaftlicher Analyse, geschichtlichen Rückblicken und emotionalen Konflikten. Es ist ein vielschichtiges Epos, das sowohl die Themen Zerstörung als auch Mitgefühl behandelt und den Leser zum Nachdenken anregt.
Im dunkelsten Afrika
Im Sudan, der ab 1821 unter die Herrschaft der osmanischen Vizekönige von Ägypten gekommen war, brach 1881 der Mahdiaufstand aus. Nach dem Abzug der anglo-ägyptischen Truppen aus dem Sudan behauptete sich der deutsche Forscher Emin-Pascha als Gouverneur der südlichsten Provinz des Sudan Äquatoria.
Emin-Pascha, bürgerlich Eduard Schnitzer, schrieb einen Brief an die Times, in dem er um Hilfe bat. Die Empathie in der britischen Bevölkerung führte dazu, dass rasch die finanziellen Mittel für eine Expedition zur Befreiung Emin-Paschas aufgebracht wurden.
Der Afrikaforscher Henry M. Stanley wurde beauftragt, die Expedition zu leiten. Ob und wie es Stanley gelang Emin-Pascha zu retten und welche Abenteuer er auf seiner Expedition erlebte, das beschreibt der Autor Stanley in diesem Buch.
Die Geschichte dreht sich um Willem Adema, einen 100-jährigen ehemaligen SS-Offizier, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein erfolgreiches Offshore-Unternehmen gegründet hat. Willem ist ein komplexer Charakter; er identifizierte sich nicht mit der Nazi-Ideologie und kämpfte stattdessen gegen den Kommunismus. Am Ende des Krieges schloss er sich dem Widerstand an und blieb ein rätselhafter Patriarch, der viele Geheimnisse birgt. Diese Geheimnisse werden durch die Perspektive seines Enkels Willem junior und dessen Zwillingsbruder Hugo beleuchtet.
Willem junior, der das Unternehmen leitet, ist ein pragmatischer Geschäftsmann, der in erster Linie an Zahlen und Bilanzen interessiert ist. Im Gegensatz dazu steht der künstlerische und sensitive Hugo, der als Außenseiter gilt und eine tiefe Affinität zur buddhistischen Philosophie hat. Diese beiden Figuren könnten nicht unterschiedlicher sein, was den Konflikt zwischen ihnen und innerhalb der Familie verstärkt. In Rückblicken erfahren wir, dass Hugo in seiner Jugend oft von seinem Bruder misshandelt wurde, was die Komplexität ihrer Beziehung weiter vertieft.
Der Roman entfaltet sich aus der Gegenwart und rekonstruiert die Familiengeschichte, während Hugo versucht, das Erbe seines Großvaters durch seine Kunst zu verarbeiten. Kunst wird hier zum Werkzeug, um die dunkle Vergangenheit der Familie ans Licht zu bringen. Während Hugo in seinen Arbeiten die Verstrickungen seines Großvaters mit der Nazi-Vergangenheit thematisiert, wird Willem senior durch Tagebücher und Archivdokumente weiter entblättert. Es wird deutlich, dass Willem Adema auch im Alter noch die „Eroberung der Welt“ anstrebt, jedoch nicht mehr mit Waffen, sondern durch seine geschäftlichen Ambitionen.
Ein zentrales Motiv in „Nirwana“ ist die Frage nach der Zukunftsperspektive. Hugo sieht sich selbst als einen „Looser“, der in einer Welt lebt, die ihm kaum Hoffnung auf eine positive Wendung bietet. Er spricht von einer bevorstehenden „Ära extremen Leidens“, was die düstere Stimmung des Romans unterstreicht. Wieringa verwendet eine tiefgründige Symbolik, um die Zwillingsbrüder Hugo und Willem mit den mythischen Figuren Epimetheus und Prometheus zu vergleichen – der eine blickt zurück, der andere nach vorn.
Ein weiterer faszinierender Aspekt des Romans ist die Präsenz eines Schriftstellers, der Hugo dazu anregt, sich mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Hier wird die Grenze zwischen Fiktion und Realität verwischt, was den Leser zusätzlich fesselt. Wieringa zeigt in seiner Erzählung eine klare Sympathie für Hugo, den idealistischen Künstler, der gegen die Mechanismen des Kapitalismus ankämpft, auch innerhalb seiner eigenen Familie.
Die emotionalen Elemente des Romans werden besonders deutlich in einer herzzerreißenden Episode, in der Hugo seine behinderte Tante besucht. Diese Szene ist nicht nur ein Moment der Fürsorge, sondern auch ein Symbol für die dunklen Flecken in der Geschichte der Familie Adema. „Nirwana“ ist ein eindringlicher Roman über eine angesehen Familie, die von Geheimnissen und der Vergangenheit geprägt ist, und er beleuchtet die zerstörerische Kraft des Kapitalismus.
Am Ende des Romans wird das Bild von Hugo, der unter einem Baum sitzt, als eine Art Buddha beschrieben. Dies verdeutlicht, dass er weder den Tod noch die Erleuchtung aktiv sucht, sondern in der Stille und Reflexion bleibt. Wieringas Werk ist somit nicht nur eine Erzählung über Verlust und Verzweiflung, sondern auch über die Sympathie für den „Verlierer“ in einer Welt, in der die Guten oft die Verlierer sind. In der Figur des Hugo Adema findet der Leser einen tragischen, aber zutiefst menschlichen Charakter, der trotz aller Widrigkeiten einen Platz in der Welt sucht.
Tommy Wieringa hat mit „Nirwana“ einen bemerkenswerten Roman geschaffen, der sowohl die emotionalen als auch die gesellschaftlichen Aspekte des Lebens beleuchtet und den Leser zum Nachdenken über