Ein Blick in die Abgründe der Menschheit – Thomas Pynchons „Schattennummer“**

Nach einer langen Pause von zwölf Jahren bringt Thomas Pynchon mit seinem neuen Roman „Schattennummer“ ein weiteres literarisches Werk auf den Markt. Der mittlerweile 88-Jährige Autor, der seit den 1960er Jahren in der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen wurde, liefert mit diesem Buch einmal mehr einen faszinierenden Einblick in seine einzigartige Erzählweise, die von seinen treuen Lesern geschätzt wird. Pynchons Romane haben sich im Laufe der Zeit einen besonderen Kultstatus erarbeitet, und „Schattennummer“ bildet hier keine Ausnahme.

Auf rund 400 Seiten begegnet der Leser einer Vielzahl von skurrilen Charakteren und Nerds, die alle versuchen, in einer unübersichtlichen Welt voller Verbrecher und krimineller Syndikate ihr bescheidenes Leben zu meistern. Im Zentrum der Geschichte steht Hicks MacTaggart, ein ehemaliger Schläger, der nun als Privatdetektiv arbeitet. Er ist ein vielschichtiger Charakter, der trotz seiner rauen Kanten ein gutes Herz hat. Hicks wird in einen Fall verwickelt, der ihn nicht nur lokal beschäftigt, sondern ihn in das vom aufkommenden Faschismus geprägte Europa der 1930er Jahre führt.

Sein Auftrag besteht darin, Daphne Airmont, die Erbin eines großen Käseimperiums aus Wisconsin, zu finden. Diese ist gemeinsam mit einem Klarinettisten, der Klezmer-Musik spielt, verschwunden. Ihr Verschwinden sorgt für Aufregung in ihrer Familie, zumal der Patriarch des Käseimperiums, eine Figur, die an Al Capone erinnert, sich im Gefängnis befindet. Die Situation wird zudem kompliziert, da Hicks und Daphne in der Vergangenheit eine Beziehung hatten, die mit einem dramatischen Fluchtversuch aus einer Psychiatrie begann.

Pynchons Erzählweise ist geprägt von einer Fülle historischer Anspielungen und gesellschaftlicher Reflexionen, die sich leicht auf die Gegenwart übertragen lassen. Mit seiner typischen Sprunghaftigkeit und Abstraktheit meidet Pynchon eine klare, nachvollziehbare Handlung. Die Detektivgeschichte ist für ihn nicht das Hauptanliegen; sie dient vielmehr als Rahmen, um tiefere gesellschaftliche Themen zu beleuchten. Leser, die klare Auflösungen und strukturierte Plots erwarten, könnten enttäuscht sein. Stattdessen bietet Pynchon eine Fülle von Anspielungen und eine unvergleichliche Beschreibungswut, die den Leser in ihren Bann zieht.

Gerade jetzt ist Pynchon durch die Verfilmung seines Romans „Vineland“ aus dem Jahr 1993 wieder in aller Munde. Die Adaption mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle thematisiert die politischen und gesellschaftlichen Umstände der Reagan-Ära und bietet gleichzeitig parallele Bezüge zur heutigen Zeit. „Schattennummer“ ist ähnlich aufgebaut und spiegelt die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche wider. Im Roman finden sich zahlreiche Anzeichen von Faschismus, der sowohl in der Form von nationalsozialistischen Gruppierungen als auch in der zunehmenden Aggressivität des Antisemitismus präsent ist.

Hicks, der Protagonist, gibt sich der Strömung der Geschichte hin und wird zum Getriebenen, der sich durch Europa bewegt. Seine Reise führt ihn durch viele Städte, darunter Wien, Budapest und Transsilvanien, bis hin zur kroatischen Adriaküste. Pynchon scheut sich nicht, auch technische und fantastische Elemente in die Handlung zu integrieren, wie etwa eine „Trans Trianon 2000“-Tour mit Hunderten von Motorradfahrern, die durch Osteuropa fahren und dabei von Mafiosi und Geheimdiensten verfolgt werden.

Die Frage, wo die Reise enden wird, bleibt in Pynchons typischer Manier offen. Die Leser werden in einen Strudel von Absurditäten und unfreiwilliger Komik hineingezogen, die den Roman zu einem Erlebnis machen, das weit über die Grenzen eines klassischen Detektivromans hinausgeht. „Schattennummer“ ist ein Werk, das sowohl zum Nachdenken anregt als auch die Absurditäten des menschlichen Daseins auf humorvolle Weise beleuchtet.

Insgesamt ist Pynchons „Schattennummer“ ein weiteres Meisterwerk, das die Leser auf eine abenteuerliche und gediegene Reise durch die Abgründe der Menschheit mitnimmt. Es ist ein Buch, das sowohl literarisch anspruchsvoll als auch unterhaltsam ist und die charakteristische Handschrift des Autors in vollem Umfang zur Geltung bringt.