Man schreibt das Jahr 1925: Die Inflation ist gerade überwunden, der Charleston beherrscht das Tanzparkett, die Männer pflegen sich Pomade in ihre Haare zu schmieren, die Damenwelt lässt sich Wasserwellen legen oder die Haare ondulieren, und der Adel flüchtet zur Sommerfrische zwecks Erholung aus der Stadt aufs Land. Zu dieser Elite darf sich auch Carl von Bäumer in dem Kriminalroman Feine Leute zählen. Als Filmstar wird der Herzensbrecher als der schönste Mann der UFA gefeiert, und neben Kokain konsumiert er am liebsten Moët, den teuersten Champagner.
Als Gottlieb Straumann, von mit einer Duellpistole mit Perlmuttgriff ermordet in einem Berliner Hotel aufgefunden wird, will Carl seinen Freund Paul Genzer, einen Kriminalkommissar, zu dem er ein homosexuelles und damit nicht legitimiertes Verhältnis unterhält, bei der Aufdeckung unterstützen, obwohl er keinerlei ermittlungstechnische Fähigkeiten besitzt und lediglich über Sherlock Holmes und Edgar Wallace gelesen hat. Da Bernice Straumann ein Verhältnis zu ihrem Verwalter Max Bayer hatte, aber für die Tatzeit ein Alibi, liegt es für Paul auf der Hand, dass sie ihren Geliebten zu dem Mord angestiftet haben muss, zumal die Tatwaffe auch bei Max gefunden wurde. Doch fallen Carl einige Ungereimtheiten auf. Durch Befragungen wird bekannt, dass Straumann vom Verhältnis seiner Frau gewusst hat, womit ihr Motiv hinfällig wäre. Überdies war er schwerkrank und hatte ohnehin nicht mehr lange zu leben. Nachdem Bernice an einer Überdosis Morphium aus dem Leben scheidet und weitere Morde geschehen, stehen Paul und Carl vor einem Rätsel. Sie quält aber nicht nur die Frage, wer aus allem einen Vorteil zieht, sondern jeder ist auf den anderen eifersüchtig.
Das grausige Hobby von Sir Joseph Londe
„Was für einen Unfug wollen Sie von mir?“, fragte Daniel – vergeblich versuchte er, sich aufzusetzen.
„Nur um einen Blick auf Ihr Gehirn zu werfen“, war die angenehme Antwort.
„Mein – mein was?“ Daniel keuchte.
„Ihr Gehirn“, wiederholte der andere, nahm eines der Messer aus der Schachtel und untersuchte es kritisch. „Übrigens, Sie wissen natürlich, wer ich bin? Ich bin Sir Joseph Londe, der größte Chirurg der Welt. Ich habe mehr Operationen durchgeführt, als es Sterne am Himmel gibt. Leider wurde eines Tages ein kleiner Teil meines Gehirns rot. … Solange ich diesen kleinen Teil des roten Gehirns nicht ersetzen kann, bin ich verrückt. …. In Sie habe ich jedoch absolutes Vertrauen.“
„Wie wollen Sie an mein Gehirn rankommen?“ Daniel fand die Kraft zu fragen.
„Ich will es natürlich herausschneiden“, erklärte der andere. „Sie brauchen nicht die geringste Angst zu haben. Ich bin der beste Operator der Welt.“
„Und was machen Sie danach mit mir?“
Der Chirurg kicherte.
„Ich begrabe Sie im Steingarten“, antwortete er. „Ich nenne ihn meinen Friedhof. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, ganz still zu bleiben …“
Das ist ein kurzer Textausschnitt aus dem Buch, das Spannung und einen besonderen Lesegenuss verspricht.
Um es vorweg zu nehmen: Der Kriminalroman Feine Leute von Joan Wenig ist schwierig zu lesen und schwer verständlich. Viel zu viele Personen treten im Handlungsverlauf in Erscheinung und verwirren den Leser zunehmend. Aber auch völlig aus dem Zusammenhang gerissene Absätze sind nicht einzuordnen, so dass der Roman nur wenig Interesse und Lust zum Weiterlesen weckt. Etwa nach dem ersten Drittel wird langsam verständlich, worum es geht, auch wenn die Bedeutung einiger Umschreibungen erst nach einem Geistesblitz klar wird.
Joan Weng schreibt auf einem sehr hohen Niveau, was sich auch an einigen Textstellen widerspiegelt, in denen sie Bezug auf die ebenfalls anspruchsvolle Literatur wie Macbeth oder Die Brüder Karamasow nimmt. Es finden sich durchaus auch amüsant ironische und sarkastische Passagen, wie die eines abgeschnittenen Ohres, das sich in einem geblümten Taschentuch befinden soll und von Kriminalassistent Dörflein gesucht wird. Allein der Name dieses Beamten, wie auch die Bezeichnung Muskel-Adolf, würden wohl kaum in einem ernst zu nehmenden Krimi auftauchen. Immer wieder gibt es Einschübe und Ergänzungen, die mit dem eigentlichen Kriminalfall nichts gemein haben und auch Verbindungen, die nicht zusammenpassen wollen: Da wird dem Kommissar in einem Atemzug von einer Messerstecherei und einem Totgetretenen berichtet, wie von der fehlenden Eintragung in die Liste für den nächsten Betriebsausflug.
Ein breites Thema räumt Joan Wenig in ihrem Roman aber auch den beiden Protagonisten Carl und Paul ein, die ihre Zuneigung füreinander wegen des damals noch geltenden Unzuchtparagraphen geheim halten müssen und vor Eifersucht platzen. Als Fazit kann gesagt werden, dass der Kriminalroman Feine Leute sehr gewöhnungsbedürftig ist und mit einem ungewöhnlichen Ende aufwartet. Aber wer Durchhaltevermögen besitzt und sich einmal auf den skurrilen, teils makabren Schreibstil der Autorin eingelassen hat, wird die feinen Untertöne dieser Persiflage genießen.
Joan Weng, Feine Leute, Aufbau Verlag 2016, Taschenbuch 336 Seiten, ISBN 978-3-7466-3175-2, Preis: 9,99 Euro.