In seinem neuen Buch „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ zeichnet Henning Sußebach das Leben seiner Urgroßmutter Anna Kalthoff nach und eröffnet damit ein eindrucksvolles Panorama der deutschen Geschichte vom Kaiserreich bis zum Aufstieg des Faschismus. Diese Biografie ist nicht nur eine persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, sondern auch ein tiefgehendes Zeugnis der gesellschaftlichen Verhältnisse und Herausforderungen, mit denen Frauen in der damaligen Zeit konfrontiert waren.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1887, als die junge Anna, geboren 1866, ihre Stelle als Lehrerin in dem kleinen Dorf Cobbenrode im Sauerland antritt. Sußebach beschreibt, wie Anna in einer von Männern dominierten Welt leben muss, in der ihre Entscheidungen von einem Gremium aus Männern abhängig sind. Die sozialen Normen und Einschränkungen, die sie erleidet, sind sowohl drückend als auch prägend für ihren Lebensweg. Ihre Existenz wird durch strenge Regeln bestimmt, die Frauen in der Gesellschaft auferlegt werden. So ist Anna nicht nur als Lehrerin, sondern auch als Frau in ihrer Freiheit stark eingeschränkt.
Die familiäre Situation von Anna ist von frühen Schicksalsschlägen geprägt. Der Tod ihres Vaters, der die Familie durch seine Arbeit in einer Schankwirtschaft ernährte, zwingt die Mutter, ihre älteren Töchter zu verheiraten und Anna in eine Klosterschule zu schicken, um ihr eine Ausbildung zu ermöglichen. Diese Entscheidungen, die nicht im Sinne Annas sind, stellen bereits in jungen Jahren die Weichen für ihr Leben. Trotz der Widrigkeiten, die ihr Schicksal mit sich bringt, zeigt Anna einen starken Willen und Wunsch nach Unabhängigkeit.
Ein zentraler Punkt in Annas Leben ist ihre Liebe zu Clemens, dem Sohn eines wohlhabenden Landwirts. Diese Beziehung wird jedoch von der Gesellschaft nicht akzeptiert, da die beiden Liebenden Außenseiter sind, die sich für Theater und Mode interessieren. Nach einer langen Wartezeit von zwölf Jahren, in der sie sich gegen die gesellschaftlichen Konventionen behaupten müssen, heiraten sie schließlich, doch das Glück währt nicht lange. Clemens stirbt tragisch bei einem Unfall, und Anna sieht sich nun als Witwe, die ihren Sohn allein aufziehen muss.
Interessanterweise bricht Anna mit den Konventionen ihrer Zeit, indem sie das Familienunternehmen übernimmt und sich als Unternehmerin etabliert. Diese Entwicklung zeigt, dass sie trotz aller gesellschaftlichen Widerstände und persönlichen Verluste eine zentrale Figur in ihrem Dorf wird. Sußebach beschreibt, wie sie sich gegen die gesellschaftliche Ablehnung durch Männer behauptet, die ihr nach dem Tod ihres Mannes den Hof machen und ihren wirtschaftlichen Erfolg für sich nutzen wollen. Ihre Entscheidung, erneut zu heiraten – und zwar einen jüngeren Lehrer – stößt auf heftige Kritik, doch Anna bleibt unbeirrt und führt ein erfülltes Leben, das auch ein weiteres Kind in die Welt bringt.
In der Erzählung gelingt es Sußebach, Annas Leben in den größeren historischen Kontext einzubetten. Er führt die Leser durch verschiedene Epochen, darunter das Kaiserreich, die Weimarer Republik und die Herausforderungen der Industrialisierung. Dabei verknüpft er persönliche Anekdoten mit historischen Ereignissen, was das Buch sowohl informativ als auch emotional macht.
Der Schreibstil ist geprägt von einer leisen, aber eindringlichen Erzählweise, die es dem Leser ermöglicht, Annas Lebensweg nachzuvollziehen und ihre Stärke zu erkennen. Sußebach gelingt es, die Lücken in Annas Leben mit Empathie und spekulativen Überlegungen zu füllen, ohne sie als Heldin oder Opfer zu stilisieren. Er zeigt sie als eine komplexe Persönlichkeit, die in einer schwierigen Zeit ihre eigene Stimme findet und ihre Geschichte selbst erzählt.
„Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ ist ein berührendes und inspirierendes Werk über Erinnerungen, Mut und das Recht, die eigene Geschichte selbst zu gestalten. Es regt dazu an, auch in der eigenen Familiengeschichte nach den „Anna“-Figuren zu suchen, die oft im Schatten der großen Erzählungen stehen. Sußebach schafft es, ein lebendiges Zeitgemälde zu zeichnen, das die Leistungen der „kleinen“ Frauen in der Geschichte würdigt und gleichzeitig den Mut zur Veränderung und Selbstbestimmung feiert.





