In ihrem Werk „Bitteres Blau“ präsentiert Maike Albath eine facettenreiche Betrachtung der Stadt Neapel, die sowohl Sehnsucht als auch Schrecken in sich trägt. Die Autorin, die sich durch ihre tiefen Kenntnisse der italienischen Literatur und Kultur auszeichnet, hat mit ihren Reportagen einen einzigartigen Zugang zu dieser pulsierenden Metropole geschaffen. Ihr Blick ist geprägt von einem feinen Gespür für die kulturellen und sozialen Dynamiken, die Neapel prägen.
Albath beginnt ihre Erkundung mit einem Kapitel, das sich dem Fußball widmet, einer Leidenschaft, die alle Schichten der neapolitanischen Bevölkerung verbindet. Der SSC Neapel, der in den späten 1980er Jahren mit dem legendären Diego Maradona große Erfolge feierte, ist bis heute ein Symbol für den Stolz der Stadt. 2023 feierte die Mannschaft erneut einen Meisterschaftserfolg, diesmal jedoch ohne einen überragenden Star. Albath beschreibt eindrücklich die Feierlichkeiten der Fans, die den Triumph ihres Teams über wohlhabendere Clubs aus dem Norden Italiens zelebrieren. Diese leidenschaftlichen Schilderungen zeigen, wie sehr der Sport die Gemeinschaft in Neapel formt und zusammenhält.
Ein weiterer zentraler Aspekt in Albaths Reportagen sind die Buchhandlungen, die gleichzeitig Verlage sind und als wichtige Zentren des literarischen Lebens fungieren. Insbesondere die Buchhandlung Dante & Descartes, die seit 1989 existiert, wird hervorgehoben. Der Gründer, Raimondo di Maio, erzählt der Autorin von den Herausforderungen und Erfolgen seiner Einrichtung in einer Stadt, in der viele Buchläden in den letzten Jahrzehnten schließen mussten. Dante & Descartes hat sich jedoch als widerstandsfähig erwiesen und veröffentlicht sowohl zeitgenössische Werke als auch bedeutende Neuentdeckungen. Die enge Verbindung zwischen Buchhandel, Verlagswesen und der literarischen Szene wird hier deutlich.
Albath führt den Leser auch in die problematischen Stadtteile Neapels, wie Scampia, wo kreative Köpfe versuchen, durch Kultur und Bildung positive Veränderungen herbeizuführen. Hier trifft sie auf Rosario Esposito und seine Frau, die einen innovativen Buchladen eröffnet haben, der nicht nur Bücher verkauft, sondern auch als kultureller Treffpunkt, Bar und Pizzeria fungiert. Diese Initiativen zeigen, wie durch Literatur und Gemeinschaftsprojekte das Image und die Lebensqualität eines Stadtteils verbessert werden können.
In ihren Reportagen thematisiert Albath auch die tiefgreifenden Veränderungen, die Neapel in den letzten Jahrzehnten durchlebt hat. Gentrifizierung und der Einfluss von Tourismus sind ebenso präsent wie der Verlust traditioneller Industrien. Sie spricht mit Anwohnern, die ihre Perspektiven und Erfahrungen teilen, und bietet so ein vielschichtiges Bild der urbanen Transformation.
Ein zentrales Kapitel widmet sich den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf Neapel, ein Thema, das durch die Erinnerungen des Autors Raffaele La Capria lebendig gemacht wird. Die Zerstörungen, die die Stadt durch Bombardierungen und Besatzung erlitt, sind ein Teil ihrer Geschichte, die nicht vergessen werden darf. Hier wird deutlich, wie eng die literarische Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Identität der Stadt verknüpft ist.
Besonders eindringlich sind die Portraits neapolitanischer Schriftsteller, die Albath in ihren Reportagen skizziert. Von der bedeutenden Figur Benedetto Croce bis hin zu modernen Stimmen wie Elena Ferrante und Roberto Saviano entfaltet sich ein literarisches Panorama, das die kulturelle Tiefe der Stadt widerspiegelt. Ferrantes Werke werden von Albath nicht nur als literarische Erfolge, sondern auch als Spiegel der sozialen Realitäten Neapels betrachtet.
Darüber hinaus beleuchtet Albath weniger bekannte Autorinnen wie Anna Maria Ortese und Matilde Serao, deren Lebensgeschichten und Werke zur Relevanz der weiblichen Perspektive in der neapolitanischen Literatur beitragen. Diese Stimmen bereichern das Gesamtbild und zeigen die Vielfalt der literarischen Produktion in Neapel auf.
Insgesamt gelingt es Maike Albath in „Bitteres Blau“, ein lebendiges und vielschichtiges Bild Neapels zu zeichnen, das sowohl die Herausforderungen als auch die Schönheiten der Stadt erfasst. Ihre Reportagen sind nicht nur eine Hommage an die Literatur, sondern auch an die Menschen und das pulsierende Leben, das Neapel ausmacht. Das Buch ist eine Einladung, diese faszinierende Stadt durch die Augen ihrer Schriftsteller zu entdecken und zu verstehen.