In der Anstalt

 

In der Anstalt.

Ein Bild aus dem Leben.

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Anleitung zum Roman-Schreiben

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Aus dem Inhalt:

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von  Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Nicht weit von einer westdeutschen Industriestadt liegt eine grössere Zahl schmucklos, aber gefällig gebauter Häuser. Durch grössere Entfernungen voneinander getrennt,
verstreuen sie sich über ein weites, hügeliges Gelände, das hier und da mit Wald bestanden ist. Grösstenteils werden sie von Kranken bewohnt, denen die kräftige Luft und der tiefe Frieden wohlthut.

In einem der Häuser jedoch werden keine körperlich Leidenden aufgenommen. Dies ist das Haus, das am weitesten der Stadt zugeschoben und durch ein eisernes Gitterwerk von der Landstrasse getrennt ist. Es ist die Domäne derer, die Schiffbruch im Leben gelitten haben, das Asyl der Gestrandeten.

Es beherbergt nur Leute aus besseren Lebensschichten. In der Überzahl sind die Offiziere a. D. Etliche Geistliche sind auch darunter, mitunter auch ein Schriftsteller oder ein
Redakteur.

Mannigfaltig ist ihre Schuld und ihr Schicksal; mannigfaltig sind die Wege, die sie hierhergeführt; allen gemeinsam aber ist der dumpfe Gram, der ihre Tage verbittert und der
sie allmählich stumpf macht gegen das Aussenleben, der allmählich auch ihre Sehnsucht, wieder hinauszufliegen, erdrückt, und erst mit dieser Sehnsucht matter und matter wird.

Die meisten der Herren sind schon längere Zeit da. Man unterscheidet sie leicht von den übrigen Bewohnern der Anstalt. Sie tragen einen Zug schmerzlicher Resignation im Gesicht,
und ihre Augen blicken auf ein vergangenes Leben.

Hier und da gemahnen noch Gang und Gebärde an die frühere gesellschaftliche Stellung. Sonst kommt sie selten zum Vorschein. Besonders nicht in der Kleidung. Wenn beim Essen
ein Tropfen Suppe oder Bratensaft auf den Rock fällt – nun, so schadet das nichts. Gereinigt wird er deswegen doch nicht. Für wen auch? Untereinander hat man sich gegenseitig nichts vorzuwerfen und ausser der alten Dame, welche die Wirtschaft führt, und ihren beiden Dienstmädchen ist kein weibliches Wesen für sie vorhanden. In die Stadt zu gehen ist ihnen auch nicht erlaubt, weil
es zum Teil der Alkohol war, der sie hierhergebracht.

Da ist der Hauptmann und Oberamtmann a. D. von Wegeler, der ein tüchtiger, pflichttreuer Beamter war, bis ihm sein junges Weib im ersten Kindbett starb. Von da ab hatte er keinen
Sinn mehr für seine Akten gehabt und vom frühen Morgen an bei der Flasche gesessen. Man schonte ihn so lange als möglich; eines Tages aber war er schwer betrunken an das offene Grab eines alten Soldaten getreten,
um ihm nach dem Geistlichen als Vorsitzender des Kriegervereins ebenfalls einige Worte nachzurufen. Hin und her taumelnd hatte er einige unzusammenhängende Sätze hervorgestossen, bis er endlich
gänzlich das Gleichgewicht verloren hatte und auf den blumengeschmückten Sarg gefallen war. Es hatte einen dumpfen Schall gegeben, der oben einen entrüsteten Widerhall fand und laut genug war, um bis zum Minister
zu dringen. Er hat nachdem nicht mehr amtiert und trug sein Weh in die stillen Räume der Anstalt. Vom Trunk liess er bald; auch die Wunden, die ihm der Tod seiner Frau geschlagen, vernarbten in der alles heilenden Zeit.
Dafür überkam ihn aber die Energielosigkeit eines Lebens, dem jeder Sporn fehlt, die Resignation eines Lebens, das sich selber verloren giebt.

Sein Zimmergenosse, ein kleiner, pommerscher Pastor, der wie eine Karikatur aus dem vorigen Jahrhundert aussieht und eine verbitterte, boshafte Zunge hat, bedurfte keines so jähen
Anstosses, um ein Trinker zu werden. Fünfundzwanzig Jahre in einem elenden Dorfe, ganz einsam, ohne Verkehr, ohne Bücher und geistige Anregung hatten ihn ganz allmählich dazu gemacht. Die Bauern hatten oft Gelegenheit
gehabt, einen Betrunkenen auf der Kanzel zu sehen, bis sich das hohe Konsistorium hineinmischte, und er abgesetzt wurde.

Dann wohnt ein junger, bildhübscher Mann dort, der kurz nach seiner Beförderung zum Oberleutnant in später Nacht einst angerauscht und durch einen
Wortwechsel erregt aus dem Kreise seiner Kameraden geschieden und auf dem Heimwege mit der brennenden Cigarre einem Pulverschuppen zu nahe gekommen war. Der Posten hatte ihn auf die bestehenden Vorschriften aufmerksam gemacht,
vielleicht in einem ungebührlichen Ton. Genug, der arme, betrunkene Leutnant hatte ihn mit der flachen Klinge über das Gesicht geschlagen. Verwundet hatte er ihn nicht, aber die Militärgesetze lassen nicht mit
sich spassen. Er bekam den schlichten Abschied, und da er zu keinem anderen Berufe vorgebildet war, landete auch er hier.

Ach, es sind seltsame Schicksale, die sich hier zusammenfinden! …

In dumpfem Gram, in stumpfer Resignation schleppen sie ihre Tage dahin. Die Erinnerung, in der sie überhaupt nur leben, das Fehlen des weiblichen Elementes, das schon manchen
zu neuem Aufstieg trieb, das Fehlen jeglicher Berührung mit den brausenden Stürmen und Strömen der Freiheit, das lässt sie ganz verkümmern.

Einmal schlug aber doch eine Welle der Aussenwelt auch in ihren Frieden.

Eines Tages blieb Herr von Wegeler, der als erster der Herren gegen Mittag das Speisezimmer betrat, überrascht in dem Thürrahmen stehen. Auf seinem dicken, aber bleichen Gesicht spiegelte sich ein fassungsloses Erstaunen, das sich mehr oder minder auch in den Zügen der nachfolgenden ausdrückte.

Neben der Wirtschafterin, einer Pastorenwitwe, stand eine junge, hohe Mädchengestalt. Das Haar lag ihr in schweren, goldenen Flechten auf dem Haupte, und ihre Augen waren schön
und klug. Sie hatte das Aussehen einer vornehmen Dame, wenn sie auch nur eine Erzieherin war, die ihre Tante besuchte.

Nach der Gesamtvorstellung, die von seiten des Hausvaters, eines weissbärtigen Greises, erfolgte, schien sich die allgemeine Erregung etwas zu legen. Man ass seine Suppe wie gewöhnlich,
nur dass hier und da verstohlene Blicke zu dem Fremdling hinüberstreiften. Bald kam aber die zweite Sensation. Das Fräulein, das einige Zeit verwundert auf die schweigenden Gesichter gesehen
hatte, begann ein Gespräch. Seit Menschengedenken plauderte man nicht am Anstaltstisch. Es war immer, als ob der allgemeine Gram jedes Wort in den Kehlen zurückgehalten hatte. Sie aber stellte harmlos dem ihr gegenüber
sitzenden Hausvater allerhand Fragen, sprach dann über das Wetter, Krankheiten und den englischen Nationalcharakter und zog allmählich auch Herrn von Wegeler in die Unterhaltung.

Dabei bemerkte er plötzlich, dass sie mit einem Blick grenzenlosen Erstaunens seinen Rock betrachtete, und zum erstenmal seit langer Zeit dachte er daran, dass der ja ganz entsetzlich schmutzig sein musste. Eine brennende Röte flog über sein Gesicht. Dann aber trat der ehemalige Offizier in ihm hervor. Mit Gewalt seine Verlegenheit
niederzwingend, setzte er sich durch lebhaftes Geplauder über das Peinliche dieses Augenblicks hinweg, und schon nach wenigen Minuten waren in ihm wie in den übrigen am Tische Sitzenden wenigstens die Formen der
besseren Vergangenheit wieder lebendig geworden.

Kaum dass sie die Tafel verlassen hatten, wurde von allen Seiten nach dem Hausdiener gerufen, und eine halbe Stunde später trabte dieser, keuchend unter der Last von vierzehn
Oberröcken der Reinigungsanstalt zu. Herr von Wegeler zog sich seinen Sonntagsstaat an, und selbst der Ministersohn, der so lange Jura studiert hatte, bis ihm die Haare ausgegangen waren, suchte sich
eine frische, lachsfarbene Krawatte hervor, obwohl er dabei murmelte, dass es doch eigentlich nur eine Erzieherin sei.

Beim Nachmittagskaffee boten sie einen anderen Anblick. Selbst der kleine Pastor, der immer in den Kleiderschrank stieg, um dort einen heimlichen Kognak zu sich zu nehmen, hatte sich
rasiert und seine Hände gründlicher als sonst gewaschen. Die, der zu Ehren das alles geschehen war, liess sich zunächst aber nicht blicken. Als sie endlich doch erschien, war sie im Ausgehkostüm und trug
den Sonnenschirm in der behandschuhten Hand.

 

»Meine Herren,« rief sie fröhlich, »wer von Ihnen will so freundlich sein, mich auf die Ziegelburg zu begleiten? Tante hat natürlich keine Zeit dafür!«

Eine Sekunde blieb alles still. Jeder dachte daran, dass es ihnen streng untersagt war, das Anstaltsgebiet zu verlassen. Dann aber schoben sich dreizehn Stühle zurück, und
bis auf den Pastor erklärten sie alle, dass es ihnen ein besonderes Vergnügen sein würde.

Ein Lächeln in den schönen Augen, sah sie von einem zum andern.

»Die Herren sind zu liebenswürdig,« meinte sie dann. »So viel Kavaliere auf einmal würde aber doch beängstigend sein. Herr von Wegeler und Sie, Herr
Leutnant, wenn ich bitten darf. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Und nach einem graziösen Kopfnicken ging sie den beiden Auserwählten voran.

Nachdem sie den hohen Burgberg bestiegen und die entzückende Aussicht genossen hatten, die bei einem mässig guten Glase bis zur Porta Westphalica reicht, schlug sie vor,
noch einmal in die Stadt zu fahren, wo sie einen kleinen Einkauf zu besorgen hatte. Herr von Wegeler und der melancholische Leutnant folgten ihr auch dahin. Zum zweitenmal übertraten sie damit die jahrelang eingehaltenen
Anstaltsvorschriften. Aber was sollten sie thun? Der blosse Gedanke, ihr gestehen zu müssen, dass sie wie Schulkinder nur eine sehr begrenzte Bewegungsfreiheit genossen, trieb ihnen schon die Scham in das Gesicht, und beiden schoss es wie ein Blitz durch das Gehirn, dass es doch eigentlich schmachvoll wäre, in solcher
Abhängigkeit zu stehen – sie, zwei kräftige, gesunde Menschen!

Als sie heimkehrend die auf das Anstaltsgebiet führende Thür öffneten, sahen beide noch einmal zurück und in ihre Augen trat ein seltsamer Ausdruck. Dort lag die
Stadt. Ihre Lichter funkelten zu ihnen herüber, und wie ein dumpfes Brausen schlug der Lärm der geschäftigen Freiheit an ihr Ohr. Das Haus vor ihnen aber lag tot und still.

Herr von Wegeler konnte in der darauffolgenden Nacht nicht schlafen. Die Idee, wieder hinauszutreten, liess ihm keine Ruhe. Und am nächsten Tage nahm er einen grossen Bogen Papier zur Hand, auf dem er eine Eingabe an das Ministerium zu entwerfen begann. Er kam damit jedoch nicht zu Ende. Immer wieder hatte
er zu streichen und zu verbessern, und so verschob er die Absendung denn von einem Tage zum andern und besserte tagtäglich daran herum.

Es war allmählich ein ganz anderes Leben in die Anstalt gekommen. Die Herren hielten wieder auf ihre Kleidung, bei Tische wurde geplaudert, die Tagesereignisse besprochen, hier
und da auch ein Scherz gemacht. Selbst untereinander grüssten sie sich verbindlicher, und wenn einer das Rasieren vergessen hatte, trafen ihn missbilligende Blicke. Der melancholische Leutnant bürstete sogar seinen Schnurrbart hoch und legte regelmässig eine Bartbinde an, wodurch er gleich viel weniger melancholisch aussah.

An allen Ecken und Enden merkte man es, dass ein frischer Wind durch die modrige Luft der Resignation gefahren war.

Die Gouvernante hatte aber nur einen kurzen Urlaub. Schon am nächsten Sonntag musste sie fort, über den Kanal zurück in die erwerbende Fron der Kindererziehung.

Als sie sich von den Herren verabschiedete, wurde es von keinem besonders schmerzlich empfunden. Verliebt war ja niemand in sie, und niemand hatte daran gezweifelt, dass sie über kurz oder lang wieder verschwinden würde.

Bei der nächsten Mittagstafel hatten aber dennoch alle ein eigentümliches Gefühl. Die alte Pastorenwitwe sass grämlich auf ihrem Stuhl, der Hausvater hatte den
weissen Kopf beinahe ganz in die Schultern hineingezogen, und die Herren sahen trübe in ihre Suppe, die auch weniger Fettaugen zu haben schien wie früher. Einmal versuchte der Ministersohn mit der roten Krawatte,
ein Gespräch einzuleiten. Er erhielt aber nur einsilbige Antworten.

Am nächsten Tage war der Stumpfsinn wieder in alle seine Rechte eingesetzt. Die Röcke wurden wieder fleckig, Herr von Wegeler überliess seine Eingabe den Mäusen,
der Leutnant bürstete sich den Bart nicht mehr, der kleine Pastor fing wieder an, das Rasieren und Händewaschen für Zeitverschwendung zu halten, und wenn des Abends die Lichter der Stadt
herüberfunkelten, sah sie niemand mehr an.

Für wen auch?

Es war eine Welle der Aussenwelt auch in ihren »Frieden« gedrungen, aber sie ebbte viel zu früh zurück. Ihre Seelen sinken wieder in den alten Schlaf. Wie das
graue Haus in der Dämmerung liegen sie da, tot, still, träge, während doch ganz in ihrer Nähe das Leben sich in gigantischer Arbeit regt und mit roten, funkelnden, bösen Augen zu ihnen herübersieht.

 

 


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