Mit der Veröffentlichung seiner neuen „Ukrainischen Literaturgeschichte“ hat Ulrich Schmid einen bedeutenden Schritt in der deutschen Literaturwissenschaft unternommen. In einer Zeit, in der das Interesse an ukrainischer Kultur und Geschichte nach dem Jahr 2014 und insbesondere seit 2022 gestiegen ist, ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur akademischen Auseinandersetzung mit der Ukraine. Über die letzten Jahrzehnte hinweg war die Rezeption ukrainischer Literatur im deutschsprachigen Raum eher limitiert, doch dies hat sich mittlerweile geändert. An vielen Universitäten wurden Lehrstühle für die ukrainische Sprache eingerichtet, und auch Kurse, die sich mit der ukrainischen Geschichte und Kultur befassen, finden zunehmend Beachtung.
Schmids Werk kommt zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Grundlagen für tiefere Studien zur Ukraine immer weiter festigen. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Landes sind bereits in deutscher Sprache erschienen. Dennoch fehlte bis dato eine umfassende Darstellung der ukrainischen Literatur, die bis in die Gegenwart reicht. Diese Lücke schließt nun Schmid mit seinem Buch, das den Titel „Ukrainische Literaturgeschichte“ trägt – ein bewusster Verzicht auf die Formulierung „Geschichte der ukrainischen Literatur“, was auf die Komplexität des Themas hinweist.
Ein zentrales Anliegen der Literaturgeschichte ist die Frage nach dem geografischen und sprachlichen Rahmen. Welche Gebiete und welche Sprachen sollen berücksichtigt werden? Während die früheste Literatur nur bedingt als „ukrainisch“ klassifiziert werden kann, da sie Teil eines größeren ostslawischen Sprachkontinuums war, wird in dem Band auch der Begriff „mittelukrainisch“ verwendet, ohne dass dessen Bedeutung klar umrissen wird. Die Mehrsprachigkeit der Literatur, die sich in den Werken bedeutender Autoren wie Ivan Franko oder Lesja Ukrajinka zeigt, wird thematisiert, bleibt jedoch in der Analyse häufig unzureichend beleuchtet. Besonders die letzten drei Jahrzehnte werden in Bezug auf die ukrainische und die russische Literatur behandelt, während andere relevante Sprachen in der Ukraine kaum Beachtung finden.
Schmids Einführung ist prägnant und setzt sich mit der Methodik der Literaturgeschichtsschreibung auseinander. Er bietet einen Überblick über bereits bestehende Darstellungen, die meist in ukrainischer Sprache verfasst sind, und betont, dass die ukrainische Literaturgeschichte von einem ständigen Wechsel zwischen Kontinuität und Diskontinuität geprägt ist. Dies spiegelt sich in der Struktur des Buches wider, das in 18 Kapitel gegliedert ist. Diese Kapitel behandeln die verschiedenen Epochen der ukrainischen Literatur und zeichnen einen Bogen von den Anfängen in der Kyjiver Rus‘ bis zur modernen Literatur, die den Euromaidan und den russischen Krieg gegen die Ukraine in den Fokus nimmt.
Die geografische Perspektive der Beiträge variiert, da die ukrainische Literaturgeschichte oft durch wechselnde politische Grenzen beeinflusst wurde. So gibt es Kapitel, die sich mit der ukrainischen Literatur in der polnisch-litauischen Adelsrepublik oder im Habsburgerreich befassen. Dies verleiht dem Werk eine historische Tiefe und macht deutlich, wie stark die Literatur von den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen geprägt wurde.
Die Auswahl der behandelten Autoren und Werke ist weitgehend gelungen, auch wenn die Abwesenheit bemerkenswerter Schriftstellerinnen wie Sofia Yablonska bedauerlich ist. Schmid legt zudem Wert auf die Darstellung von Autorinnen und Autoren, die zwischen verschiedenen nationalen Identitäten und Sprachen pendelten. Die Vielfalt der Schauplätze, an denen ukrainische Literatur entstand, wird durch Begriffe wie Polen, Russland und Bukowina veranschaulicht.
Obwohl das Buch einige kleinere Mängel aufweist, wie uneinheitliche Umschrift von ukrainischen Namen oder gelegentliche Fehler, bleibt die Gesamtleistung des Projekts beeindruckend. Die „Ukrainische Literaturgeschichte“ ist in einem klaren und zugänglichen Stil verfasst und bietet einen umfassenden Überblick über die Jahrhunderte hinweg. Sie ist unideologisch und vor allem informativ, was sie zu einer wertvollen Ressource für alle macht, die sich intensiver mit der ukrainischen Literatur auseinandersetzen möchten. Zudem regt das Buch dazu an, die noch unübersetzten Werke der ukrainischen Literatur ins Deutsche zu bringen, was den Dialog zwischen den Kulturen weiter fördern könnte.