Die Suche nach Würde im Angesicht der Extreme: Lea Ypis „Aufrecht“**

Lea Ypi, eine albanisch-britische Politikwissenschaftlerin und Philosophin, präsentiert mit ihrem zweiten Roman „Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme“ eine tiefgehende Erzählung über die Herausforderungen der Menschheit im Kontext politischer und moralischer Krisen. Nach dem viel beachteten Debüt „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“, das autobiografische Elemente ihrer Kindheit im letzten realsozialistischen Staat Europas und das Aufwachsen im neuen, neoliberalen Albanien beleuchtet, wendet sich Ypi nun der Lebensgeschichte ihrer Großmutter Leman zu. Diese Figur wird zum zentralen Ankerpunkt der Erzählung, während Ypi selbst als Erzählerin fungiert, die von Zweifeln und der Suche nach ihrer eigenen Identität getrieben wird.

Der Roman beginnt mit Ypis Rückkehr in die Stadt Tirana, die ihr mittlerweile fremd erscheint. Sie verfolgt den Ursprung eines Fotos, das ihre Großmutter in einem merkwürdigen Kontext zeigt und ihre Erinnerungen ins Wanken bringt. Diese Entdeckung führt sie zu den Archiven des ehemaligen albanischen Staatssicherheitsdienstes, wo sie die Geschichte ihrer Großeltern rekonstruiert. Diese Erzählung thematisiert nicht nur das Überleben in extremen Zeiten, sondern auch die Bewahrung der eigenen Würde und Identität.

Die Biografie Lemans, die im Rahmen des turbulenten 20. Jahrhunderts spielt, ist geprägt von politischen Umbrüchen und persönlichen Schicksalen. Begonnen als Teil der griechischen Oberschicht in Thessaloniki, flieht sie nach Albanien, um ihren albanischen Wurzeln näherzukommen. Dort trifft sie ihren Mann Asllan, einen Marxisten, dessen Inhaftierung sie in eine prekäre Lage bringt. Die politische Repression, die sie während der italienischen und deutschen Besatzung sowie unter dem autoritären Regime Enver Hoxhas erlebt, bringt sie in Konflikt mit dem System, das sie als „Klassenfeindin“ stigmatisiert.

Ein zentrales Thema des Romans ist der Erhalt der Würde inmitten patriarchalischer und autoritärer Strukturen. Ypi beleuchtet die Herausforderungen, denen Frauen in diesen gesellschaftlichen Kontexten gegenüberstehen. Leman, aufgewachsen in einer privilegierten Familie, sieht sich mit dem Druck des Patriarchats konfrontiert. Ihre Tante Selma, eine starke Frau, die an den Erwartungen der Gesellschaft scheitert, wird zu einem prägenden Einfluss für Leman und deren spätere politische Entwicklung. Ypi zeigt, wie autoritäre Systeme die Lebensrealitäten von Frauen bis ins Mark erschüttern und sie ihrer Selbstbestimmung berauben.

Nach der Inhaftierung ihres Mannes ist Leman gezwungen, allein für sich und ihr Kind zu sorgen. Ihre Arbeit auf einem Bauernhof in Westalbanien, die sie unter dem Druck der Staatspartei leistet, wird zu einer Überlebensstrategie, aber auch zu einem Akt des stillen Widerstands. Sie kämpft darum, die Produktionsziele nicht nur zu erreichen, sondern zu übertreffen, um eine drohende Abschiebung ihrer schwerkranken Mutter zu verhindern. In ihrer Entschlossenheit, den Widrigkeiten zu trotzen, findet Leman Trost in der Vorstellung, dass sie mit moralischer Stärke gegen das Unrecht ankämpft.

Ypis Erzählweise ist geprägt von einer klaren, präzisen Sprache und einem reflektierten Ansatz, der politische und philosophische Ideen miteinander verknüpft. Sie kritisiert die kapitalistischen Strukturen und deren Auswirkungen, ohne dabei in historische Analogien zu verfallen. Das Leben Lemans wird zur Linse, durch die die Leser die Parallelen zur gegenwärtigen politischen und sozialen Realität erkennen können. Ypis Werk regt zum Nachdenken über die Herausforderungen der Vergangenheit und die Lehren, die wir daraus ziehen können, an.

Insgesamt zeichnet „Aufrecht“ ein eindringliches Bild von den Kämpfen einer Frau in einem von Extremen geprägten Jahrhundert und zeigt, wie diese Kämpfe nicht nur individuelle Schicksale prägen, sondern auch Raum für Würde und Emanzipation schaffen können. Ypi gelingt es, mit ihrer Geschichte nicht nur die Erinnerungen an eine vergessene Vergangenheit aufzufrischen, sondern auch eine Botschaft der Hoffnung und des Widerstands zu vermitteln, die bis in die Gegenwart nachhallt.