Die Frage nach der Kommunikation mit außerirdischen Wesen hat die Menschheit seit jeher beschäftigt. Wie würden diese Besucher uns verstehen, und wie könnten wir ihnen unsere Gedanken und Gefühle vermitteln? Diese Thematik wird nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Literatur, wie etwa in Denis Villeneuves Film „Arrival“, behandelt. Hier wird eine Sprachwissenschaftlerin vor die Herausforderung gestellt, die komplexen Zeichen einer fremden Spezies zu entschlüsseln, die sich von allem unterscheidet, was die Menschheit als Schrift entwickelt hat. Diese Zeichen sind flüchtig und dynamisch, und die Frage bleibt, was die Außerirdischen mit unseren Worten anfangen könnten.
Martin Hüttels Gedichtsammlung „Libelli“ erinnert an die Bemühungen dieser hypothetischen Sprachforscher. Hüttel nähert sich der Sprache ohne Vorurteile und ohne die gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen, die normalerweise unsere Kommunikation prägen. In seinen Gedichten vermischt er verschiedene Wortarten und -klassen, ignoriert die herkömmlichen grammatischen Strukturen und ordnet seine sprachlichen Funde neu an. Diese Herangehensweise ähnelt den Methoden der Philologie, die durch das Einfügen plausibler Wörter in Textlücken und die Rekonstruktion beschädigter Texte geprägt ist.
Hüttel bezeichnet seine Gedichte als „Glossen“, was darauf hinweist, dass sie als Randnotizen zu einer größeren, abwesenden Schrift zu verstehen sind. Diese Texte sind nicht nur Eigenständigkeit, sondern auch Teil einer Dialogstruktur, da er sie mit russischen Übersetzungen versieht, die eine neue Dimension der Interpretation eröffnen. Die Gedichte selbst sind Produkte eines unablässigen rhythmischen Spiels mit der Sprache. Hüttels Sprachgebilde sind durch wiederkehrende Muster gekennzeichnet: „die Worte worten Leute leuten“ oder „Clouds ohne Clouds am Abendhimmel“. Diese rhythmische Wiederholung schafft ein Gefühl der Dringlichkeit und des Flusses, das in den Versen verankert ist.
Ein zentrales Motiv in Hüttels Werk ist das Versprechen – sowohl in der Form des antizipierenden Versprechens als auch in der des wiederholten Sich-Versprechens. Diese Dualität führt zu einem ständigen Redezwang, der die Worte in Bewegung hält. Es entsteht ein Gefühl der Unruhe, das den Leser zwingt, weiter zu lesen und nach Sinn zu suchen. Der poetische Ausdruck wird zur Kunst der Paranoia, in der alles miteinander verknüpft und durch geheime Verbindungen beeinflusst ist. Diese Dynamik wird in der Vorstellung von „zahlenlosen Zahlen“ deutlich, die eine mystische Dimension der Mathematik suggeriert und den Leser auf die verborgenen Bedeutungen hinweist, die der alltäglichen Sprache entzogen bleiben.
Hüttels Gedichte sind nicht nur formal interessant, sondern auch thematisch breit gefächert. Sie thematisieren sowohl lokale als auch globale Aspekte des Lebens und verknüpfen historische Ereignisse mit gegenwärtigen Fragen. Städte und Orte werden als zentrale Bezugspunkte in seinen „Städtereisen“ genutzt, und die Gedichte reflektieren sowohl persönliche als auch kollektive Erinnerungen und Erfahrungen. Dabei wird deutlich, dass die genannten Orte nicht nur geografische Punkte sind, sondern auch Träger von Geschichte, Identität und kulturellem Gedächtnis.
Die poetischen Reisen, die Hüttel unternimmt, sind keine touristischen Erkundungen, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung mit der Komplexität der Sprache und der menschlichen Erfahrung. Die Städte werden zu Signaturen von Veränderung und Bewegung, während das Wort selbst als Transportmittel für Gedanken und Gefühle dient. Hüttels Sprache ist dabei niemals statisch, sondern in stetem Fluss, was die Dynamik und den Wandel der menschlichen Kommunikation widerspiegelt.
Abschließend lässt sich sagen, dass Martin Hüttels „Libelli“ eine faszinierende Auseinandersetzung mit der Sprache darstellt. Durch seine innovative und unorthodoxe Herangehensweise an die Poesie gelingt es ihm, die Leser in eine Welt zu entführen, in der Worte ständig im Fluss sind und neue Bedeutungen und Assoziationen erzeugen. Hüttels Gedichte sind ein eindrucksvolles Zeugnis für die Kraft der Sprache und deren Fähigkeit, uns mit der existenziellen Fragestellungen der Menschheit zu verbinden.




