In der aktuellen Ausgabe der Text+Kritik-Reihe wird Lutz Seilers literarisches Schaffen eingehend beleuchtet. Der Band, herausgegeben von Bernard Banoun, einem Germanistikprofessor an der Sorbonne, bietet eine differenzierte Auseinandersetzung mit Seilers Gedichten und Romanen. Besonders in den Fokus rückt das, was Seiler als das „Woyzeck-Prinzip“ bezeichnet. In seiner Dankesrede zum Büchner-Preis 2023 thematisierte er die Verbindung zwischen der Figur des Dichters Georg Büchner und seiner eigenen Herkunft. Diese Verbindung verdeutlicht die Lebensgeschichten der „Geringsten“, die sowohl bei Büchner als auch bei Seiler von harter Arbeit und Demütigung geprägt sind.
Seilers Werke thematisieren den Pauperismus im industriellen Zeitalter und die verstrahlten Landschaften des posttechnologischen Anthropozäns. In seinen Romanen, Essays und Gedichten schafft er es, diese Übergänge zwischen verschiedenen Lebensrealitäten anschaulich darzustellen. Daher war es nur folgerichtig, ihn in die angesehene Reihe der Text+Kritik-Hefte aufzunehmen.
Der Band eröffnet mit einem aufschlussreichen Gespräch zwischen Banoun und Seiler, das die Entwicklung des Autors von der Lyrik hin zur Prosa nachzeichnet. Seiler beschreibt, dass seine Essays eine Art Vorstufe zur Romanästhetik darstellen. Diese Essays erfordern sowohl „konzentrierte Anwesenheit“ im epischen Schreiben als auch „konzentrierte Abwesenheit“ im lyrischen. Für ihn ist die Musikalität der Sprache entscheidend, und die eigene Stimme spielt eine wesentliche Rolle beim Vorlesen, um eine „Stimmigkeit“ zu erreichen. Diese sprachlichen Nuancen führen zu eindrucksvollen, genreübergreifenden Bildwelten, die in Seilers Werken immer wieder auftauchen.
Ein zentraler Beitrag in diesem Band stammt von Stephan Pabst, der den engen Zusammenhang zwischen Seilers lyrischem und epischem Werk herausarbeitet. Er argumentiert, dass Seilers Romane „Kruso“ und „Stern 111“ als Künstlerromane verstanden werden können, da sie die Entwicklung des Lyrikers aus dem Geist der DDR-Avantgarde thematisieren. Die Protagonisten dieser Werke leben in alternativen Künstlerkolonien, schreiben selbst Gedichte und reflektieren die prekäre Rolle der Lyrik in einem von Umbrüchen geprägten Land.
Doch Seilers Werke sind nicht nur von der Lyrik geprägt, sondern auch von Alltagsgegenständen, die auf besondere Weise aufgeladen werden. Diese Objekte, wie das titelgebende Kofferradio „Stern 111“ oder die Handwerkszeuge eines Maurers, spielen eine zentrale Rolle in seinen Erzählungen. Michael Ostheimer erläutert in seinem Beitrag, wie diese Dinge nicht nur materielle Präsenz haben, sondern auch tiefere emotionale und mentale Bedeutungen transportieren.
Diverse Autoren, darunter Valentina Di Rosa und Lothar Müller, beleuchten in ihren Beiträgen die Verbindung zwischen Handwerk, Licht und musikalischer Vorstellungskraft in Seilers Schreiben. Sie zeigen auf, wie diese Elemente zusammenwirken, um die poetische Dimension seiner Werke zu entfalten. Müller zieht Vergleiche zu Donald Barthelmes Erzählung „Am Ende des mechanischen Zeitalters“ und zeigt, wie Seilers Erzählung „Der Ableser“ beide Welten – die der Realität und der Transzendenz – miteinander verknüpft.
Der Band schließt mit einem Werkverzeichnis sowie einem Auszug aus einem neuen Romanmanuskript von Lutz Seiler, der das Interesse der Leser weckt. Der Protagonist Carl begegnet einer mysteriösen „Fellstiefelfrau“, die ihn ermahnt, „auf Höhe der eigenen Schatten zu bleiben“. Auch hier finden sich vertraute Motive wie Licht und Hand, die in Seilers Werk immer wieder auftauchen.
Insgesamt bietet dieser Text+Kritik-Band eine tiefgehende und facettenreiche Analyse von Lutz Seilers literarischem Schaffen, das durch seine einzigartige Verbindung von Lyrik, Prosa und Alltagsrealität besticht.





