Liebesbeziehungen und deren Störungen
Um einen Menschen ganz kennenzulernen, ist es notwendig, ihn auch in seinen Liebesbeziehungen zu verstehen … Wir müssen von ihm aussagen können, ob er sich in Angelegenheiten der Liebe richtig oder unrichtig verhält, wir müssen feststellen können, warum er in einem Fall geeignet, im anderen Falle ungeeignet ist oder sein würde.
Wenn man außerdem bedenkt, dass von der Lösung des Liebes- und Eheproblems vielleicht der größte Teil des menschlichen Glücks abhängig ist, wird uns sofort klar, dass wir eine Summe der allerschwerstwiegenden Fragen vor uns haben, die den Gegenstand dieses Buches bilden.
von
Ernest William Hornung
Ich bin ein Angestellter in einem großen Handelshaus in der Lombard Street und bin dreiundzwanzig Jahre alt. Ich lebe mit meinen Eltern und anderen Familienmitgliedern in einem abgelegenen Vorort, der zehn Meilen von der Stadt entfernt ist, wohin ich jeden Morgen mit dem Zug fahre und abends wieder zurück. Im Büro habe ich mir einen Ruf als ruhiger, fleißiger Arbeiter erworben. Zu Hause behalte ich meine ruhige Art bei und gelte darüber hinaus als verträumter Bücherwurm, der obendrein noch ungesellig ist. Ich bin mittelgroß, leicht gebaut und, das muss man zugeben, das Gegenteil von muskulös. Ich konnte nie feststellen, dass ich andere als banale Eigenschaften besitze; und das gleiche Urteil, nur vielleicht weniger qualifiziert, würden wahrscheinlich auch andere über mich fällen. So viel zu meiner Person muss ich sagen, bevor ich versuche zu erzählen, was mir am Morgen des 24. März 1886 widerfuhr.
Am Abend des 23. März hatte ich mir zum ersten Mal den ‚Faust‘ im Lyceum angesehen. Wenn ich Bücher bis zur Ungeselligkeit liebe, dann liebe ich auch das Theater bis zur Extravaganz: Zumindest wurde mir das vor einem Jahr im Familienkreis ständig gesagt, denn jetzt gehe ich seltener ins Theater. Ich war in der Tat ein eingefleischter ‚Pitite‘, und es verging selten eine Woche, vor allem während der Saison, ohne dass ich eines der Theater im Westend besuchte.
Bereits um sechs Uhr am Nachmittag des 23. hatte ich meine Position vor dem Bühneneingang des Lyceum eingenommen und mir einen Platz in der ersten Reihe gesichert.
Die Aufführung hat mich in ihren Bann gezogen. Da ich kein Sprachwissenschaftler bin, hatte ich nur eine Übersetzung von Goethes Werk gelesen und war daher von Zweifeln an der textlichen Wiedergabe des Originals unbehelligt. Drei Stunden lang lebte ich im Land der Romantik. Ich sympathisierte mit den Schauspielern der Tragödie. Mit gespannten Sinnen und Nerven konzentrierte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf das, was vor mir geschah. Und doch spürte ich sehr bald, wie diese Sympathie von dem bösen Genie des Stücks absorbiert wurde! Allmählich wuchs der Einfluss auf mich, bis Mephistopheles einen größeren, einen unermesslich größeren Reiz auf mich ausübte als jede andere Figur des Stücks.