Ein Kind der See.
von Georg Busse-Palma
Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger
Er war ein Antwerpener.
Sein Vater, dessen Glieder die Gicht gekrümmt hatte, verzehrte sich vor Sehnsucht nach dem offenen Meer, das er Jahrzehnte lang befahren hatte. Als kleiner Hafenbeamter wohnte
er dicht am Wasser, und über die Wiege seines Kindes flogen die herben, salzigen Seewinde. In die Schlummerliedchen, die ihm die Mutter sang, schrillten die Dampfpfeifen, und wenn er des Nachts sein heisses Köpfchen
aus den Kissen hob und durch das Fenster sah, glotzten ihn aus der Ferne böse, rotglühende Augen an. Er fürchtete sich aber nicht lange vor ihnen, denn ehe er noch sprechen konnte, wusste
er schon, dass sie kein Spuk, sondern nur die Laternen mächtiger, dunkler Schiffskolosse waren, die sich schwerfällig durch den Kanal dem geräumigen Hafen zu bewegten.
Kaum, dass er die Kinderschuhe ausgetreten hatte, ging auch er zur See. Als Leichtmatrose fuhr er auf einem Kauffahrteischiff.
Da kam es, dass sein Grossvater mütterlicherseits, der tief im Binnenlande wohnte, um eine Mitternacht den Tod an die Thüre seines Gehöftes pochen hörte. Auch die
Klinke hatte geknirscht, aber der hagere Schnitter war noch einmal vorübergegangen. Nur gemahnt hatte er den Alten. Am Tage darauf ging dieser zu dem Geistlichen des Ortes und liess sich einen Brief
schreiben an seine Tochter, die Mutter von Henrik Jansen junior. Einen Brief des Inhalts, dass sein Enkel zu ihm kommen solle, damit, wenn der Schnitter wiederkäme, einer da wäre, der die gemähte Garbe in die
Scheuer bringe und ihm ein Erbe, dem Gehöft aber ein neuer Herr sei.
Jansen jun. stiess anfänglich nur ein unartikuliertes Grunzen aus, als seine Mutter ihm davon Mitteilung machte. Da er gerade nicht geheuert war, reckte er seine mächtigen
jungen Glieder auf der Ofenbank und faulenzte. Er dachte aber immer daran, dass er bald wieder fahren würde, und es wollte ihm durchaus nicht in den blonden Schädel, dass er überhaupt von
der See weggehen und als Binnenländer leben könnte. Zwischen Leuten, die noch nie einen schwimmenden Balken unter den Füssen gehabt! Lächerlich war dies einfach. Und am Schluss dieser Gedankenkette spie
er verächtlich ein Stück Kautabak in weitem Bogen durch das geöffnete Fenster.
Seine Mutter, die früh verhärmt und früh gealtert aussah, liess aber nicht nach. Für sie, die tief im Lande Geborene, waren Meer und Schiffahrt immer nur unersättliche
Mörder gewesen. Zwei Brüder ihres Mannes hatten sie auf dem Gewissen. Der eine war ertrunken, der andere hatte sich das gelbe Fieber geholt und war in der Fremde verscharrt worden. Sie fürchtete für ihren Sohn und wurde nicht müde, auf ihn einzureden.
Es dauerte aber lange, bis sie seine schwerfälligen Gedanken auf den Punkt gebracht hatte, von dem aus gesehen das Binnenland lieblich war. Als er jedoch einmal sich selber sagte,
dass es prächtig sein müsse, auf eigenem Grund und Boden zu stehen, wo er keinem Kapitän und keinem Steuermann zu parieren brauchte – da hatte sie gewonnenes Spiel.
Jansen jun. erhob sich von der Ofenbank, trank einen Genever und siedelte dann zu seinem Grossvater über.
Das Dorf, in welchem dieser wohnte, war fett und nahrhaft und seine eigene Wirtschaft desgleichen. Als der Alte seinen Enkel bei sich hatte, neigte er das Haupt,
so tief wie eine Ähre im Juli. Bald knirschte die Klinke zum zweiten Male, und diesmal ging der Fremde nicht vorüber; im Gegenteil gab er dem Landwirt gewordenen Matrosen Gelegenheit, ein würdiges Leichenbegängnis
zu veranstalten und sich als Herrn eines gesegneten Ackers, eines stattlichen Gebäudes und mehrerer Joch Ochsen zu fühlen.
Ein alter, erfahrener Knecht war da, so dass es an der kundigen Hand nicht fehlte und Jansen jun. Zeit hatte, die Schönheit des Binnenlandes kennen zu lernen.
Anfänglich erregte alles seine Bewunderung und Freude. Die wogenden, goldgelben Ähren, die ihm fast bis an die Schulter reichten, die fruchtstrotzenden
Obstbäume und nicht zum mindesten der sagenumwobene Klapperstorch, der sich hier auf der sumpfigen Wiese behaglich Frösche fing, – es waren ihm entweder ganz fremde Erscheinungen, oder doch nur wie flüchtige
Traumbilder, irgendwo in der Vergangenheit gesehene. So verging ihm der Sommer schnell und fröhlich. Solange ihm alles neu und fremd war, gefiel ihm das Dorf, den Herbst hindurch und auch den Winter über. Wenn es
ganz grimmig kalt war und er in dem mollig erwärmten Zimmer sass, schmunzelte er sogar mitunter bei dem Gedanken, dass er das Jahr vorher um diese Zeit an der englischen Küste getrieben hatte, wo es so kalt war, dass die Haut der arbeitenden Hände in Fetzen an den gefrorenen Tauen kleben blieb. Ach, da war es
hier am Kamin doch behaglicher! Und er stopfte sich eine neue Pfeife, trank einen neuen Genever und war zufrieden.
Als es aber Frühling wurde, ging er umher wie ein Verlorener. Es drückte ihn etwas. Wie ein Stein lag es auf seiner Brust. Manchmal war es ihm, als ob er an dem fetten, kräftigen
Erdgeruch ersticken müsste. Die ganze Luft war durchtränkt von ihm und selbst der Wind war fett und erdig.
Er klagte dem Geistlichen sein Leid.