Rückkehr zu den Schatten – Dennis Lehanes „Moonlight Mile“ in neuer Übersetzung**

Dennis Lehane schloss im Jahr 2010 seine bekannte Kenzie & Gennaro-Reihe mit dem Titel „Moonlight Mile“ ab. Peter Torberg hat sich nun der Herausforderung angenommen, diesen letzten Band neu zu übersetzen. Die Kenzie & Gennaro-Serie, die in den Jahren 1994 bis 1999 mit fünf Bänden begann, erlangte schnell Popularität und wurde auch erfolgreich verfilmt, wobei Werke wie „Mystic River“ und „Shutter Island“ besonders hervorzuheben sind. Nach einer langen Pause von elf Jahren kehrte Lehane zu seinen Hauptfiguren Patrick Kenzie und Angela Gennaro zurück und schloss mit „Moonlight Mile“ das Kapitel dieser faszinierenden Detektive ab.

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Das grausige Hobby von Sir Joseph Londe

„Was für einen Unfug wollen Sie von mir?“, fragte Daniel – vergeblich versuchte er, sich aufzusetzen.
„Nur um einen Blick auf Ihr Gehirn zu werfen“, war die angenehme Antwort.
„Mein – mein was?“ Daniel keuchte.
„Ihr Gehirn“, wiederholte der andere, nahm eines der Messer aus der Schachtel und untersuchte es kritisch. „Übrigens, Sie wissen natürlich, wer ich bin? Ich bin Sir Joseph Londe, der größte Chirurg der Welt. Ich habe mehr Operationen durchgeführt, als es Sterne am Himmel gibt. Leider wurde eines Tages ein kleiner Teil meines Gehirns rot. … Solange ich diesen kleinen Teil des roten Gehirns nicht ersetzen kann, bin ich verrückt. …. In Sie habe ich jedoch absolutes Vertrauen.“
„Wie wollen Sie an mein Gehirn rankommen?“ Daniel fand die Kraft zu fragen.
„Ich will es natürlich herausschneiden“, erklärte der andere. „Sie brauchen nicht die geringste Angst zu haben. Ich bin der beste Operator der Welt.“
„Und was machen Sie danach mit mir?“
Der Chirurg kicherte.
„Ich begrabe Sie im Steingarten“, antwortete er. „Ich nenne ihn meinen Friedhof. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, ganz still zu bleiben …“
Das ist ein kurzer Textausschnitt aus dem Buch, das Spannung und einen besonderen Lesegenuss verspricht.

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Der sechste Band knüpft an die Ereignisse des vierten Teils, „Gone, Baby, Gone“, an. In diesem früheren Roman geht es um die Entführung eines vierjährigen Mädchens, Amanda McCready, aus einem sozial benachteiligten Umfeld. Kenzie und Gennaro fanden das Mädchen damals und standen vor der moralischen Dilemma, ob sie dem Gesetz folgen oder ihrer menschlichen Intuition vertrauen sollten. In „Moonlight Mile“ sind mittlerweile über zwölf Jahre vergangen, und das Paar ist verheiratet und hat eine eigene Tochter, Gabriella. Plötzlich wird Patrick Kenzie erneut mit der Vergangenheit konfrontiert, als Amandas Tante ihn um Hilfe bittet, da das Mädchen wieder verschwunden ist.

Patrick hat sich inzwischen als freier Mitarbeiter bei der Privatdetektei „Duhamel-Standiford Global“ in Boston etabliert. Obwohl ihm eine feste Anstellung in Aussicht gestellt wird, spürt er eine innere Unzufriedenheit, wenn es darum geht, wohlhabenden Klienten zu helfen, die nicht immer im Recht sind. Die finanziellen Belastungen des Lebens zwingen ihn jedoch dazu, sich auf die Suche nach Amanda zu begeben, trotz seiner negativen Erinnerungen an die erste Begegnung mit dem Mädchen.

Das Aufeinandertreffen mit der mittlerweile erwachsenen Amanda, die selbstbewusst und intelligent ist, bietet auf der einen Seite ein gewisses Maß an Erleichterung für Patrick und Angela. Gleichzeitig bringt es neue Herausforderungen mit sich, da Amandas Entwicklung und ihre eigenen moralischen Entscheidungen in der Vergangenheit die Beziehung der Kenzies auf eine harte Probe gestellt hatten.

Die Neuübersetzung von „Moonlight Mile“ durch Peter Torberg ist Teil des umfassenden Projekts des Züricher Diogenes Verlags, die gesamte Kenzie & Gennaro-Reihe neu herauszugeben. Während die ersten fünf Bände in den späten 90ern und frühen 2000ern von Andrea Fischer übersetzt wurden, bringt Torbergs frische Übertragung einen modernen Sprachstil und ermöglicht es einer neuen Lesergeneration, Lehanes eindringliche Erzählungen zu entdecken.

Ein zentrales Thema in „Moonlight Mile“ ist die kritische Reflexion über das Amerika der Bush-Jahre. Lehane scheut sich nicht, die sozialen Missstände, die hohe Arbeitslosigkeit und die verheerenden Auswirkungen der Finanzkrise unverblümt zu thematisieren. Der einstige Traum vom „Amerikanischen Traum“ scheint in weite Ferne gerückt zu sein, was sich in den verzweifelten Lebensumständen vieler Figuren im Roman widerspiegelt. Ein Charakter bringt es auf den Punkt: „All das, was unsere Väter für gegeben hielten, solange man nur hart arbeitete, das große Sicherheitsnetz und der faire Lohn? Davon ist hier nichts mehr übrig, mein Freund.“

Die Suche nach Amanda führt Patrick und Angela in verlassene und ruinierte Gegenden, die einst von einem wirtschaftlichen Aufschwung geprägt waren. Sie begegnen Ärzten, die ihre Berufe aufgegeben haben, weil das Gesundheitssystem nur auf Profit ausgerichtet ist, und alten Bekannten, die sich im Schwarzmarkt für Gesundheitsleistungen betätigen. Diese Konfrontationen zwingen das Paar dazu, sich mit der Realität auseinanderzusetzen und ihre eigenen Schutzmechanismen zu hinterfragen.

In der Vergangenheit waren Patrick und Angela unerschütterlich im Kampf gegen Ungerechtigkeit. Doch das Elternsein hat sie dazu gebracht, vorsichtiger und nachdenklicher zu werden. Ihre unterschiedlichen Ansätze, mit der Welt umzugehen, werden in Lehanes Worten deutlich: „Ihre Mauer besteht aus verhaltenem Zorn, meine aus Humor und Sarkasmus.“ Die Kenzies erkennen, dass trotz aller Veränderungen in ihrem Leben die moralischen Herausforderungen bestehen bleiben. Der Wunsch, für das Richtige zu kämpfen, auch wenn es gefährlich ist, führt sie zurück in einen Konflikt, der sie gegen russische Mafiosi und Menschenhändler