Die Tauben von San Marco

 Elisabeth Dauthendey

Die Tauben von San Marco

Venedig.

Wer vergisst sie je, der sie einmal schaute.

Diese einzig Geartete unter allen Städten der Erde.

Der Klang ihres Namens ist wie ein bebender Glockenton aus weiten, dunklen Fernen.

Dieser Klang geht mit uns durch die seltsam engen Gassen. Schaukelt auf den müden Wellen der blauschwarzen Wasserwege. Steht wie ein versteinertes Echo über den finsteren, drohenden Herrlichkeiten der einsamen Paläste

Venedig –

Die dich zum erstenmal schauen, gleiten wie Schlafwandelnde durch den Traum deiner farbenglühenden Stille. Ihre Seelen sind wie weit offene Schalen, bis zum Rande gefüllt von dem Rausche deiner flüsternden Geheimnisse, die zwischen deinen nachtschwarzen Wassern und der seidenweichen Bläue deiner Höhe hängen.

So gleitet Elena durch die Tage und Nächte Venedigs.

Kühl wie der junge Morgen, vom herben Dufte der ersten Reise umwebt, steht sie verwirrt wie ein scheuer Vogel an der Schwelle dieser berauschenden Offenbarungen, deren lockende Stimmen an die Verborgenheiten ihres eigenen Wesens dringen.

Vom Leben schon berührt, doch noch nicht zu ihm erwacht, lauscht sie in sich hinein und bleibt ohne Antwort auf die drängenden Fragen.

Und die antwortlose Leere ihrer Seele öffnet sich in schrankenloser Weite der berauschenden Fülle umher, die sie mit unerhörten Herrlichkeiten schier qualvoll überstürzt.

Wie war es doch –

War es ein Tag? Ein Traum –

So weit weg liegt es, was sie doch so tief bewegte, seit sie den Fuß an das seltsam unwirkliche Gestade dieser Stadt setzte, die ohne Schall und Laut in die Melancholie atemloser Zeitlosigkeit eingebettet scheint.

Alle Erinnerungen ruhen. In dieser klanglosen Stille versinken sie wie in seidene Schleier.

Nur der Augenblick lebt.

Und jeder Augenblick ist ein neues Schauen und Ergriffensein, eine neue Entzückung und Aufgelöstheit in die fremde Seltsamkeit umher.

Wie ein Zauber liegt die Stille über den dunkeln Wasserwegen, die wie finstere Runen lang abgelebter Schicksale im leisen Flimmer des silbernen Südlichtes träge hinfluten, spinnt zwischen den Kuppeln der Dome und den ragenden Palästen und liegt wie ein weicher Teppich über den engen Gassen hingebreitet.

Der schwirrende Flug der unzähligen Tauben von San Marco ist der einzige Ton, der diese Stadt bewegt, der aus ihr kommt und ihr gehört.

Wenn es vom Torre d’Orologio Mittag schlägt –

Das ist die Stunde, da die Scharen der Fremden sich auf der Piazza sammeln, um dem Fluge der Tauben zu lauschen, der gleichsam eine Erlösung aus der geisterhaft starren Stille ringsum zu bringen scheint.

Elena steht mitten unter ihnen. Auch sie hat die Hände voll Brosamen und streut sie dem lustgirrenden Gevögel achtlos hin.

Achtlos, wie im Traum.

Denn schlafwandelnd geht sie durch die Tage.

Alle Wege zu sich selbst sind überladen von all dem Neuen und Gewaltigen, das über sie kam. Alle Brücken zur Vergangenheit aufgehoben. Zu jäh war der Schritt aus der Leere ihrer unbewegten Jugend zu den sich überstürzenden Ereignissen der letzten Wochen und Tage.

In kurzen Wochen ist sie Braut und Weib geworden.

Kaum aber war sie am bräutlichen Kusse zu dem leisen Erstaunen erwacht, das ihre schlafende Seele fast mit Schrecken erfüllte, entriss ihr der rauhe Wille des tobenden Krieges den Verlobten. Und wenige Wochen darauf ward sie sein Weib.

Weiterlesen »
Zur Quelle wechseln