Abendfalter

 

Abendfalter.

von  Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

 An jedem Samstag Nachmittag hatte Brigitte Winterfeld nichts Besseres zu thun, als mit den Kindern des Pfarrers auf der grossen Wiese herumzutollen. Es waren dies zwei Mädchen
von elf und dreizehn Jahren, bei denen es lange währte, ehe sie ermüdet, aber jauchzend vor Vergnügen, sich in die Butterblumen warfen, die ebenso goldgelb waren wie der Sommersonnenschein über ihnen. Brigitte
liess aber, ihrer eigenen Trägheit zum Trotz, nicht eher nach, und wenn sie es erreicht hatte, dann war auch die ruhende Gruppe, die braunen Kinder zu Seiten ihrer grossen, schönen Spielgefährtin, ein Bild, das allen Augen gefiel.

Der pensionierte Oberförster Winterfeld besass, einen Büchsenschuss vom Dorfe entfernt, ein Landhaus, weilte aber jeden Sonnabend bis Mitternacht in der Stadt, wo ihn gute
Freunde und ein guter Trunk nicht eher losliessen. So war es schon seit Jahren Sitte, dass seine Tochter die einsamen Stunden beim Pfarrer und dessen Kindern verbrachte. Sie war auch selber noch harmlos genug, um an dem lustigen
Spiel der Kleinen ihre eigene lichte Freude zu haben.

Nur einer störte sie mitunter in ihrer Fröhlichkeit.

Wenn der Gutsverwalter, ein stiernackiger Schwarzkopf von ungefähr dreissig Jahren, auf dem schmalen Richtweg bis an ihren Wiesenplatz herangeritten kam und
ihnen zusah, vermochte sie weder ruhig im Grase liegen zu bleiben, noch mit den Kindern um die Wette zu laufen. Seine Augen ruhten mit einem so seltsamen Ausdruck auf ihr, dass sie immer das Gefühl hatte, als ob an ihrer
Kleidung etwas nicht in Ordnung wäre. Sie folgten jeder ihrer Bewegungen, die durch das dünne, schmiegsame Hängekleid allzusehr hervortraten, und liessen nicht eher ab, als bis ihr Zorn und Scham die Schläfen
dunkelrot gefärbt hatten. Dann ritt er pfeifend zurück, und frei und fröhlich konnte sie wieder aufatmen.

 

Es gab noch einen anderen, bei dessen Nahen sich ihre jungenhafte Ungezwungenheit verlor. Das war Otto Ehlers, der Sohn des Lehrers, der ihr Freund war von Kindesbeinen an. Wenn sie
diesen sah, blieb sie auch nicht ruhig liegen, aber nur, weil sie ihm gefallen wollte und weil sie nicht wusste, dass sie am schönsten war, wenn ihre vollen Glieder sich so weich und wohlig in der Sonne dehnten. –

Brigitte Winterfeld war kein Kind mehr. Sie stand erst im siebzehnten Lebensjahre, aber ihre Formen waren weit über ihr Alter hinaus gereift. Wenn sie aufrecht dastand, konnte
man sie für eine junge Frau halten. Nur an den schweren Zöpfen, die ihr blauschwarz bis über die Hüften fielen, und auch an den immer etwas sehnsüchtigen, fragenden Augen erkannte man auch äusserlich ihre unberührte Jugend. –

Es war im Spätsommer, und der Abend hing schon am Horizont, als Otto Ehlers zum letzten Mal vor seiner Abreise auf ihren Spielplatz kam.

Die Kinder sprangen ihm entgegen und hingen sich an seine Arme.

»Warum kommst du so spät heut, Onkel Otto?« –

»Es ging nicht eher, ihr Racker. Ich musste doch allen Adieu sagen,« sagte er halb lachend und halb wehmütig.

Dann begrüsste er Brigitte.

»Sie wissen ja schon, Briggi, dass ich morgen abreise?«

 

Weiterlesen »
Zur Quelle wechseln