Der alte Steffen

 

Der alte Steffen.

 von Georg Busse-Palma

 Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Im Osten der Universitätsstadt erhebt sich das Armenhaus. Es ist aus massiven, grauen Steinen gebaut und hat zwei Stockwerke. In dem oberen befinden sich aber nur die Krankensäle,
so dass die noch rüstigen Insassen von der schönen, kleinen Stadt fast nichts zu sehen bekommen. Denn aus ihren niedrig gelegenen Fenstern können sie die Mauern, die das Haus umschliessen, nicht überblicken,
und Urlaub bekommen sie sehr selten.

Im Winter ist das zu ertragen. Wenn der Regen gegen die Scheiben schlägt oder die Flocken immer dichter und dichter herniederwirbeln, frieren die alten Leute
und sehnen sich nicht nach draussen. Nur der alte Steffen vielleicht. Aber auch der denkt dann nicht an die deutschen Thäler und Gebirgsketten, die dann doch rauh und ungastlich sind. Er träumt von der heissen, brennenden
Tropensonne, trotzdem gerade sie ihn so krank und elend gemacht hat.

Er ist schwach auf den Beinen und hat keine Kraft in den Händen.

Mehrere Jahre hindurch ist er Plantagenaufseher in Java gewesen und mit blossen Füssen über die Felder gegangen, bis sein Rückenmark verdorrt und er überflüssig
geworden war. Da kam er nach Deutschland zurück, und fünf Jahre schon lebte er im Armenhause.

Aber in dem Druck der grauen, freudlosen Gegenwart kann er die Zeiten nicht vergessen, wo er als Lanzknecht die halbe Welt durchfahren. Er hat unter der Tricolore und unterm Halbmond
gefochten, ist bei Sewastopol im Feuer gewesen und hat in Tonkin geblutet. Dann ist er zu den Holländern desertiert, und dort im Civildienst hat ihn das Unglück getroffen.

In der Schar seiner Hausgenossen ist er immer noch eine imposante Erscheinung. Unter Zwergen und Krüppeln und zahnlosen, ewig kauenden Bettlergestalten tritt seine stämmige
Figur wirkungsvoll hervor. Der massige Kopf mit der kräftigen Nase, mit dem kurzen, grauen Vollbart und den hellen Augen muss gut aussehen, wenn eine Fahne über ihm flattert.

Gewöhnlich scheint er recht gleichmütig und ruhig. Manchmal aber fangen seine Augen an zu glühen und zu blitzen. Das ist, wenn die Sonne scheint. Jedem Sonnenstrahl
sieht er dann nach.

Jetzt ist die Zeit seiner Marter und qualvollsten Wonne. Es ist Frühling geworden.

Stundenlang sitzt er täglich auf der verwitterten Holzbank im Hofe. Wenn er die Wimpern hebt, sieht man eine verzehrende Sehnsucht hervorlodern. Denn die Schwalben haben unter
dem Giebel gebaut, und ihre Schwingen streifen um sein Gesicht, die Bäume grünen und sind voll junger Knospen, zwischen den Steinen im Hof schiessen schmale Gräser hervor, und die Vergangenheit
wird in ihm lebendig.

Seit zwei Tagen hat er nicht mehr gesprochen und wird noch weitere Tage nicht sprechen. Seine Kameraden aber wissen, dass jetzt die Abende kommen, wo er erzählen wird, heiser
vor Erregung, aber ein Poet in seiner sehnsuchtsreichen Qual.

Wenn sie alle zu Bette sind und nur die Nachtlampe rötlich glühend durch den dunklen Schlafsaal schaukelt, richtet er sich auf in den Kissen. Und er spricht von seiner Jugend
und ihrer Sonne und Selbstherrlichkeit. Wie er in schimmerndem Segler über blaue Meere gefahren, und von den grünen Küsten Kleinasiens Marmorhäuser herüberwinkten und der glänzende
Ölbaum. Wie er in Albanien biwakierte und mit Baschi Bozuks um ein Marschallsross gewürfelt, das feinere Glieder hatte als eine Königstochter und dessen Nüstern rosig waren wie der duftigste Nelkenkelch.
Wie er in Algerien Feldwache gestanden in Palmenhainen und Dattelwäldern und einen Kabylen erschlagen um einen Trunk Wasser. Wie er in schaukelnder Dschunke den heiligen Strom durchglitten, vorüber an rauschenden,
undurchdringlichen Dschungeln, unter Bäumen, die, im Lande wurzelnd, sich weit über das Wasser reckten und in deren dichtem Astwerk schlanke, bunte Königstiger lauerten, lautlos mit geschmeidigem Schweife die Flanken peitschend. Er spricht von Tropensternen und zierlichen havanesischen Frauen, von wirbelnden Trommeln und toten Freunden;
nur von seiner Sehnsucht spricht er nicht.

Weiterlesen »
Zur Quelle wechseln